Deutsche Redaktion

Wie man den Winter überlebt, Putin verwirrt und die Ukraine rettet

25.11.2021 22:01
Russlands Präsident Wladimir Putin verfolgt eine vielschichtige Eskalation der Bedrohungen in Europa. Seine Pläne könnten allerdings durchkreuzt werden, schreibt der ehemalige NATO-Botschafter der USA in einer Analyse für die amerikanische Denkfabrik CEPA. 
Władimir Putin
Władimir PutinPAP/EPA/MIKHAIL METZEL/ KREMLIN/ SPUTNIK/ POOL

Angesichts des Rückzugs der USA und der Zersplitterung und Schwäche Europas sieht Putin die Chance, in dem, was Russland als seine Einflusssphäre im Osten Europas betrachtet, beträchtliche Gewinne zu erzielen. Dazu will er seine überlegene strategische Position ausnutzen, schreibt Kurt Volker. Deshalb hat der Westen keine andere Wahl, als angesichts der russischen Aggression standhaft zu bleiben. Diese Bedrohungen sind ernst zu nehmen und könnten „einen von Russland verursachten schweren Winter" einläuten, wie ihn Europa seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat.

Geht es nach dem ehemaligen Botschafter, gibt es mindestens fünf unmittelbare Bedrohungen. Russland setzt die europäischen Gaslieferungen vor dem Winter unter Druck. Es nutzt Belarus, um Migranten in die Europäische Union zu treiben. Es mobilisiert Truppen und schwere Panzer in und um die Ukraine herum. Es droht mit neuen Konflikten auf dem Balkan, indem es den serbischen Nationalismus schürt und versucht, den Einfluss der USA und der Östlichen Partnerschaft der EU im Umgang mit dem Südkaukasus zu verdrängen.

Russlands jüngste Schritte folgen auf jahrelange feindselige Handlungen und Eingriffe Moskaus in die Innenpolitik des Westens, einschließlich mit Hilfe der „Desinformation, Attentate, Sabotage, Bestechung und anderer Mittel zur Schwächung Europas und der Vereinigten Staaten", heißt es in der CEPA-Analyse.

Bedrohung für die Ukraine

Kurt Volker ist überzeugt, dass die größte Bedrohung gegen die Ukraine gerichtet ist. Russlands derzeitige große Militäraufrüstung ist die dritte in diesem Jahr, und es handelt sich um eine „unangekündigte und unerklärte Ansammlung von Streitkräften und Ausrüstung um die Ukraine herum". Der Zeitpunkt der russischen Maßnahmen ist günstig: Am 8. Dezember 2021 jährt sich zum 30. Mal der Zusammenbruch der Sowjetunion, den Putin als die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Außerdem, heißt es auf CEPA, übergibt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Macht an eine SPD-geführte Regierung in Deutschland, während Russland versucht, die letzten Hürden für die Inbetriebnahme der Nord Stream 2-Gasleitung zu beseitigen.

In Frankreich hingegen stehen im April die Wahlen an. Präsident Joe Biden seinerseits hat die US-Streitkräfte aus Afghanistan abgezogen und signalisiert, dass er dies auch im Irak und in Syrien tun möchte, während seine politische Position in den Vereinigten Staaten immer schwächer wird. All dies bedeutet jedoch nicht, erklärt Volker, dass Russland unwiderruflich zu einer neuen Invasion in der Ukraine entschlossen ist. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Ereignisse ist, dass Putin von der Ukraine und dem Westen „Zugeständnisse und Gesten der Deeskalation als Gegenleistung für den Verzicht auf eine Invasion" verlangen könnte. Aber die Tatsache, dass er die notwendigen Streitkräfte zusammengezogen hat, bedeutet, dass eine starke westliche Reaktion unverzichtbar ist, um zu zeigen, dass ein solcher Schritt für Russland zu kostspielig wäre, heißt es in der Analyse.

Ukraine könnte für viele Russen zum „Leuchtturm" werden

Trotz seiner offen aggressiven Handlungen hat Russland behauptet, dass es niemanden bedroht und hat die USA und andere beschuldigt, selbst auf einen Konflikt zuzusteuern. Der Westen sollte sich von dieser aggressiven russischen Rhetorik nicht abschrecken lassen, warnt Kurt Volker - ganz im Gegenteil. „Nur konsequenter, entschlossener Gegendruck wird dafür sorgen, dass Russland die Situation nicht weiter eskalieren lässt". Wenn der Westen über seine politischen Optionen nachdenkt, darf er nicht vergessen, welche strategische Rolle die Ukraine für die Zukunft Europas spielt, fährt Volker fort.

Die Zukunft Europas wird davon abhängen, ob Russland ein feindlicher Nachbar bleibt oder sich eines Tages zu einem konstruktiven Partner umwandelt. Angesichts des unter Präsident Putin geschaffenen Systems wird sich Russland nur dann von seiner derzeitigen feindseligen Haltung abwenden, wenn es sich selbst ändert - „wenn das russische Volk in der Lage ist, eine Regierung aufzustellen, die die Interessen des Landes widerspiegelt und nicht die Interessen der ehemaligen KGB-Elite". Unter diesem Gesichtspunkt ist der Erfolg der Ukraine als marktwirtschaftliche Demokratie mit Sicherheit und Souveränität über ihr eigenes Territorium für die Vereinigten Staaten und Europa von entscheidender Bedeutung, überzeugt Volker am Schluss seiner Analyse für CEPA. Eine Ukraine, die europäischen Standards gerecht wird, würde ein Leuchtturm für die vielen Russen sein, die sich wünschen, dass ihr Staat auf demokratischer Anständigkeit basiert. Eine Ukraine, die von Russland in den Abgrund gezogen wird, würde vom Kreml ausgenutzt werden, lautet Volkers Schlussfolgerung für die Denkfabrik, um „Russlands gegenwärtigen Autoritarismus im Inland und seine Aggression im Ausland" aufrechtzuerhalten.

Botschafter Kurt Volker ist ein namhafter Mitarbeiter am Center for European Policy Analysis (CEPA). Er ist ein führender Experte für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA und diente von 2017 bis 2019 als US-Sonderbeauftragter für die Ukraine-Verhandlungen und von 2008 bis 2009 als US-Botschafter bei der NATO.