Deutsche Redaktion

Kommentar: Polen durfte Wolodymyr Schurawlow nicht an Deutschland ausliefern

20.10.2025 12:27
Der Fall der Auslieferung von Wolodymyr Schurawlow ist weit mehr als nur ein weiterer Rechtsstreit zwischen EU-Staaten. Es ist ein Prüfstein dafür, ob wir das Recht im Lichte seines Geistes und seines Zwecks zu lesen vermögen – und nicht als eine Sammlung toter Regeln, die sich für politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Polen hat auf diese Herausforderung eindeutig geantwortet: Schurawlow durfte nicht ausgeliefert werden. Und zwar nicht, weil jemand ein Machtspektakel inszenieren wollte, sondern weil am Ende jedes Gesetzes der Mensch, seine Rechte und seine reale Sicherheit stehen müssen, schreibt der Publizist Sławomir Sieradzki.
Ein Gericht in Warschau hat die Auslieferung des wegen des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines gesuchten Ukrainers an Deutschland abgelehnt und zugleich seine Untersuchungshaft aufgehoben.
Ein Gericht in Warschau hat die Auslieferung des wegen des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines gesuchten Ukrainers an Deutschland abgelehnt und zugleich seine Untersuchungshaft aufgehoben. Wojciech Olkusnik/East News

Ende September dieses Jahres nahm die polnische Polizei auf Antrag des deutschen Bundesgerichtshofs in Karlsruhe den Ukrainer Wolodymyr Schurawlow fest. Die deutschen Ermittler werfen ihm vor, an der Zerstörung der Gaspipelines Nord Stream und Nord Stream 2 im September 2022 beteiligt gewesen zu sein – also bereits nach Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine.

In der vergangenen Woche wies ein polnisches Gericht den Fall ab und ließ Schurawlow aus der Haft frei. „Sie sind ein freier Mann“, sagte der Richter zu Beginn der Verhandlung.

Die Verteidigung wiederholte von Anfang an etwas scheinbar Selbstverständliches, das in diesem Fall aber umstritten war: Das Recht ist kein neutraler Automat. Es soll dem Geschädigten dienen, seine Freiheit schützen und vor Missbrauch durch die Stärkeren bewahren. Wenn also ein Auslieferungsantrag grundlegende Zweifel daran aufwirft, ob die betreffende Person einen fairen Prozess erhalten wird, ist der ersuchte Staat verpflichtet, die Bremse zu ziehen. Vor dem polnischen Gericht wurde ein Argument laut, das für viele provokant klingen mag: In Deutschland konnte in diesem konkreten Fall der Standard der Unparteilichkeit nicht gewährleistet werden. Dabei wurde auf das Fehlen materieller Immunität für Richter und auf systemische Lösungen hingewiesen, die – so die Verteidigung – die Objektivität und Unabhängigkeit beeinflussen könnten. Das war kein Vorwurf gegen einen bestimmten Richter, sondern die Feststellung eines institutionellen Risikos. Und Risiken dürfen, wenn es um Leben und Freiheit eines Menschen geht, nicht ignoriert werden.

Der zweite Punkt ist ebenso wichtig: das Fehlen von Beweisen. Das polnische Gericht erhielt von deutscher Seite kein Material, das eine verantwortungsvolle Entscheidung über die Auslieferung ermöglicht hätte. Große Worte oder suggestive Hypothesen genügen nicht. Nur Fakten zählen – harte, überprüfbare, im kontradiktorischen Verfahren verifizierbare Fakten. Da sie nicht vorlagen, war die Entscheidung, die Auslieferung abzulehnen, nicht nur zulässig, sondern notwendig.

Hinzu kommt noch eine weitere Ebene, der viele Juristen lieber ausweichen würden: die Geopolitik. Das Argument der Verteidigung war eindeutig: Kein ukrainischer Staatsbürger sollte auf dem Gebiet der Europäischen Union für Handlungen verfolgt werden, die sich gegen Russland richten. Im Zusammenhang mit den Vorwürfen zur Sprengung von Nord Stream klingt das wie eine politische These – und das ist sie auch – zugleich aber eine logische Folge der gemeinsamen Haltung gegenüber der russischen Aggression. Man kann nicht mit der einen Hand Sanktionen beschließen, den Kreml als Aggressor und Sponsor von Staatsterrorismus bezeichnen und mit der anderen Hand eine Erzählung legitimieren, in der Angriffe auf russische Einflussinstrumente als angebliches Verbrechen erscheinen. Das ist ein doppelter Standard, der die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems untergräbt.

Es ging jedoch nicht nur um politische Inkonsistenz. Es bestand die reale Befürchtung, dass Deutschland – nach Übernahme Schurawlows – ihn an Russland weitergeben könnte. Ja, offiziell würde das niemand zugeben, aber in der Praxis finden Staaten Wege, um „Probleme zu lösen“. Dann ginge es nicht mehr um Verfahrenszweifel, sondern um die Perspektive von Folter und sicherem Tod. Der polnische Staat konnte ein solches Szenario nicht riskieren, wollte er sein Gesicht wahren und den europäischen Menschenrechtskonventionen treu bleiben.

Im Hintergrund dieses Falls zeichnet sich noch ein größeres Bild ab – Nord Stream. Jahrelang warnten Polen und die baltischen Staaten vor der deutsch-russischen Gaspolitik. Man sagte klar: Die Rohre am Grund der Ostsee werden ein Instrument des Drucks auf Mittel- und Osteuropa sein, und sobald der Kreml seine Energieinteressen abgesichert sieht, wird er sich mehr erlauben – auch einen Krieg. Die Geschichte hat den Skeptikern recht gegeben. Der heutige polnische Außenminister bezeichnete das Projekt als „Ribbentrop–Molotow-Pipeline“. Man kann über den Ton streiten, aber nicht über den Kern: Nord Stream war ein strategisch schädliches Projekt für den Frieden in Europa. In einer solchen Situation klingt die Forderung, Polen solle einen Mann ausliefern, der von deutscher Seite beschuldigt wird, dieses Projekt zerstört zu haben, wie eine Verhöhnung der Logik. Wenn etwas ein Fehler war – und das war es –, bestraft man nicht diejenigen, die diesen Fehler (wenn auch indirekt) zunichtemachen. Ein Staat, der Lehren aus seiner eigenen Geschichte zieht, kann nicht das Siegel unter ein Szenario setzen, das an umgekehrte Moral erinnert.

Man darf auch den Ton nicht übersehen, in dem sich in den letzten Jahren einige deutsche Politiker über Polen äußerten. Angela Merkel und Gerhard Schröder – Schlüsselfiguren der deutschen Russlandpolitik – erlaubten sich Kommentare, die schwerlich als Ausdruck partnerschaftlichen Respekts gelten können. Es geht nicht um gekränkten Stolz. Es geht um die schlichte Tatsache, dass diese Rhetorik die Divergenz zwischen den Staatsinteressen Polens und Deutschlands offenlegt.

Der Fall Schurawlow wird uns noch länger begleiten, denn er berührt den Kern der Auseinandersetzungen um die Gestalt Europas nach 2022. Vor unseren Augen zerbricht die Illusion, dass die Unterschiede im Sicherheitsverständnis marginal seien. Sie sind es nicht. Polen – gemeinsam mit den Staaten der Region – hat schon lange die Richtung aufgezeigt. Heute, da die Rechnung für vergangene Fehler gestellt wird, sind wir verpflichtet, diejenigen konsequent zu verteidigen, die auf der Seite der Freiheit stehen. Nicht aus Sympathie. Aus Vernunft. Denn eine Ordnung, in der die Menschenrechte mehr zählen als das Interesse an einer Pipeline, ist die einzige Ordnung, die den Frieden wirklich schützt.


Autor: Sławomir Sieradzki

Kommentar: Wer hat wirklich Öl ins Feuer gegossen?

07.10.2025 09:48
Angela Merkel hat wieder gesprochen. Diesmal deutete sie in einem Gespräch mit dem ungarischen Portal „Partizán“ an, dass zur russischen Aggression 2022 auch Staaten beigetragen hätten, die seit Jahren Alarm schlugen: Polen und die baltischen Länder. Klingt das paradox? Eher wie bequeme Amnesie. Denn wenn jemand Berlin über Jahre konsequent vor Projekten warnte, die Europa in Abhängigkeit vom Kreml bringen würden, dann waren es eben polnische und baltische Politiker, Expertinnen und Journalisten. Ihre Diagnose war einfach: Jeder in die russischen Pipelines investierte Euro kehrt zu uns zurück — in Form russischer Aufrüstung, schreibt der Publizist und Historiker Sławomir Sieradzki.