Deutsche Redaktion

Geheimdienst-Experte: “In Polen betrachten wir Russen als unfähige Barbaren. So ist es nicht.”

09.11.2025 10:33
Ein ehemaliger polnischer Geheimdienstoffizier warnt vor gefährlichen Illusionen: Russische Spionagedienste seien weitaus raffinierter als gemeinhin angenommen. Ihr Ziel sei nicht nur Informationsbeschaffung, sondern die systematische Überlastung westlicher Sicherheitsdienste. Wie nutzt Moskau verwundbare Emigrantengruppen aus? Warum sind „Einweg-Agenten" strategisch wertvoll? Und weshalb begünstigt gerade die multikulturelle Gesellschaft russische Operationen? Das erklärt Oberstleutnant Dr. Marek Świerczek im Interview mit der Rzeczpospolita.
Wie die britische Schifffahrtszeitung Lloyds List berichtet, wurde auf dem von finnischen Behrden am ersten Weihnachtstag aufgehaltenen ltanker Eagle S ein Spionagegert aufgedeckt. Das Schiff wird verdchtigt, ein Unterseekabel beschdigt zu haben.
Wie die britische Schifffahrtszeitung Lloyd's List berichtet, wurde auf dem von finnischen Behörden am ersten Weihnachtstag aufgehaltenen Öltanker Eagle S ein Spionagegerät aufgedeckt. Das Schiff wird verdächtigt, ein Unterseekabel beschädigt zu haben. Anelo/Shutterstock

„Wir neigen dazu, die Russen als unfähige Barbaren wahrzunehmen. So ist es nicht", sagt Oberstleutnant Dr. Marek Świerczek, ein ehemaliger Gegenspionageoffizier, der sich auf russische Geheimdienstoperationen spezialisiert hat im Interview mit der konservativ-liberalen Rzeczpospolita.

Das Kernproblem, so Świerczek, liege in einem fundamentalen Missverständnis russischer Operationsziele. Anders als die Sowjetunion könne Russland heute keine Massenwerbung von Agenten mehr betreiben – jährlich verließen Millionen Menschen das Land, eine Kontrolle wie zu KGB-Zeiten sei unmöglich. Die FSB und der SWR verfügten nur über einen Bruchteil der Ressourcen des früheren KGB.

Dennoch, betont der Geheimdienstexperte, nutzten die Russen eine bewährte historische Methode: die sogenannte „Totalaufklärung". Diese habe in der Sowjetunion nicht primär der Informationsbeschaffung gedient, „sondern dem ‚Erledigen des Gegners'". In der Zwischenkriegszeit habe Polen jährlich Hunderte sowjetischer Spione verhaftet – meist völlig wertlose Agenten aus Minderheiten ohne Zugang zu relevanten Informationen. „Währenddessen führten die Russen strategische Agenten im polnischen Außenministerium, die letztendlich zu einer fehlerhaften Außenpolitik führten, die im Krieg mit Deutschland endete", erinnert Świerczek.

 

Die heute massenhaft auftauchenden sogenannten Proxy-Agenten – oft für lächerliche Summen angeworbene Personen, die Infrastruktur fotografieren – könnten, so die Hypothese des Experten, genau diesem Zweck dienen: „der Überlastung des gegnerischen Gegenspionageapparats". Als Beleg führt er die Ukraine 2014 an: „Der SBU, die Feuerwehr und die ukrainische Polizei erhielten täglich Hunderte Meldungen über gelegte Bomben oder gesichtete Diversanten. Sie mussten reagieren, während dies nur dazu diente, die Ukrainer vollständig mit Alarmverfahren zu verstopfen."

Besonders alarmierend sei der Fall des Oberst Kulinicz – eines Agenten im direkten Umfeld des damaligen SBU-Chefs Iwan Bakanow. Während dieser hochplatzierte Agent operierte, tauchten gleichzeitig „Tausende unfähiger Diversanten" auf ukrainischem Territorium auf. „Allein in Kiew wurden 600 Diversantengruppen aufgedeckt", berichtet Świerczek. Das Ziel sei klar gewesen: den SBU-Gegenspionage von der tatsächlichen Bedrohung – dem Versuch der Kontrolle über den SBU selbst – abzulenken.

„Die Methodik des Handelns russischer Dienste ändert sich im Grunde seit über hundert Jahren nicht"

Der Experte weist auch auf die historische Kontinuität russischer Methoden hin: „Die Methodik des Handelns russischer Dienste ändert sich im Grunde seit über hundert Jahren nicht, obwohl sie sie modifizieren, weil neue Technologien auftauchen". Operationen wie vorgetäuschte Werbungen oder das „Verbrennen" eines Agenten zur Deckung eines wertvolleren gehörten „zum ABC der russischen Vorgehensweise".

Die massenhafte Anwerbung unter russischsprachigen Ukrainern und Belarussen in Polen sei pure Pragmatik, erklärt Świerczek. Wie in der Zwischenkriegszeit, als das OGPU russischsprachige Agenten zur Massenwerbung unter der armen, russischsprachigen Grenzbevölkerung einsetzte, nutze man heute dieselbe Taktik. „Es ist einfacher, über den Telegram-Messenger einen ukrainischen Teenager zu erreichen, dessen finanzielle Lage oft weniger günstig ist als die seines polnischen Kollegen und der Russisch spricht", so der Experte.

Das eigentliche Problem liege jedoch tiefer: „Niemand hat eigentlich demografisch-soziologische Untersuchungen zur ukrainischen Emigration durchgeführt. Wir wissen nicht, welcher Anteil der in Polen lebenden ukrainischen Emigranten de facto russischsprachig ist, Familien in Russland hat und sein Wissen über Politik aus den wöchentlichen Sendungen des Kreml-Journalisten Dmitri Kisseljow bezieht", warnt Świerczek.

Belarussisches KGB als FSB-Außenstelle

Zur Schaffung von Fassadenorganisationen meint der Experte: „Die Russen schufen verschiedene Tarnorganisationen, schaffen sie und werden sie weiterhin schaffen". Die Analogie zur belarussischen Opposition sei offensichtlich. Das belarussische KGB sei „im Grunde eine Außenstelle der russischen FSB". Als abschreckendes Beispiel führt Świerczek einen kürzlichen Vorfall in Warschau an: Bei einer Schulung der belarussischen Opposition zum Schutz vor KGB-Infiltration sei plötzlich Oberst Konstantin Bytschek vom KGB auf dem Monitor erschienen, um die Anwesenden zu warnen, sich zu beruhigen. Die Veranstaltung selbst sei vom KGB organisiert und bezahlt worden. „Das geschah hier und jetzt, vor unserer Nase", betont der Geheimdienstexperte.

Die größte Herausforderung für den Gegenspionage sehe Świerczek jedoch in der Transformation der Gesellschaft selbst. Noch vor Jahrzehnten sei die Tätigkeit der Gegenspionage „relativ einfach" gewesen, während Spionagetätigkeit schwierig war. Polen habe in einer kulturell und wirtschaftlich homogenen Gesellschaft gelebt – „hauptsächlich weiße Menschen, verbunden mit der römisch-katholischen Tradition, die Polnisch sprachen". Jeder Fremde sei aufgefallen.

Heute ist es schwieriger Risikobereiche zu identifizieren

„Heute haben wir in größerem Maße eine multiethnische, multikulturelle, mehrsprachige Gesellschaft, die sich frei über Grenzen bewegt, besonders in der Schengen-Zone", analysiert der Experte. „In einem solchen Umfeld operiert der Geheimdienst unter Treibhausbedingungen." Der Gegenspionage könne nicht mehr so leicht wie früher sogenannte Risikobereiche identifizieren.

Abschließend korrigiert Świerczek eine gefährliche polnische Selbsttäuschung: „In Polen haben wir die Tendenz, die Russen als unfähige Barbaren wahrzunehmen, die zum Beispiel nur eine politische Partei oder eine politische Option unterstützen. Nun, so ist es nicht." Die Realität sei weit komplexer: „Das sind Menschen, die slawische Gerissenheit mit mongolischer Rücksichtslosigkeit verbinden, was leider eine beträchtliche Effektivität ergibt." In einem Zweiparteiensystem würden sie „beide Beinchen absichern", da ungewiss sei, welche Partei gerade an die Macht „geschoben" werde, so Oberstleutnant Dr. Marek Świerczek in der Rzeczpospolita.

rp/adn

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