Deutsche Redaktion

PiS oder der Oberste Gerichtshof - wer stürzt Polen in die Anarchie?

06.12.2019 13:42
In den Pressekommentaren dreht sich heute alles um das gestrige Urteil des Obersten Gerichtshofs zur umstrittenen Justizreform der Regierungspartei. Eines ist sicher: das Urteil ist der Anfang einer langen Reise, schreiben heute die Publizisten.
Presseschau
PresseschauShutterstock.com

In den Pressekommentaren dreht sich heute alles um das gestrige Urteil des Obersten Gerichtshofs zur umstrittenen Justizreform der Regierungspartei. Gestern hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die neuberufene Disziplinärkammer des Obersten Gerichtshofs die EU-Kriterien für unabhängige Gerichte nicht erfüllt, der Nationale Richterrat weder unabhängig noch unparteiisch ist und dass das neuliche Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das die Entscheidung über Legalität beziehungsweise Illegalität dieser Institutionen dem Obersten Gerichtshof überlässt, für alle Seiten, also auch für das Parlament und den Staatspräsidenten, bindend ist. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass polnische Gerichte selbst den Konflikt zur Justizreform lösen sollten. Der Tenor der meisten Kommentare zum Urteil: dieser Richtspruch ist erst der Anfang einer langen Reise hin zu juristischer Stabilität, deren Ausgang weiterhin ungewiss bleibt. 

 

Rzeczpospolita: Schlag gegen die Reform erst der Anfang

Mit seiner Entscheidung habe der Oberste Gerichtshof erst einen kleinen Teil des Gordischen Knotens im polnischen Gerichtswesen entwirrt, schreibt in seinem Autorenkommentar für die konservative Rzeczpospolita der Publizist Wojciech Tumidalski. Denn nun, so der Autor, stelle sich beispielsweise die Frage, was mit den einigen hundert vom Nationalen Richterrat ernannten Richtern und den von ihnen gefällten einigen Tausend Urteilen geschehen werde. Oder mit den sich in Umlauf befindenden Entscheidungen von Institutionen, deren Autorität in letzter Zeit stark gesunken sei, wie das Urteil des Verfassungsgerichts zum Nationalen Richterrat oder der Beschluss der Disziplinärkammer des Obersten Gerichtshofs, die sich für legal erklärt hatte. All dies seien juristische Tatsachen, mit denen man auf rechtlichem Wege diskutieren sollte, jedenfalls wenn man weiterhin in den Rahmen eines demokratischen Staates agieren wolle. Gordische Knoten, betont Tumidalski, würden von Juristen nicht durchgeschnitten, sondern entwirrt. Auch wenn ein radikaler Schnitt eine verlockende Perspektive sei, vor allem für Politiker. 

Könne noch irgendetwas helfen, das sich anbahnende Chaos einzudämmen? Möglicherweise leider erst die reale Gefahr des Verlusts von EU-Fonds im Zusammenhang mit der Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Dieses Szenario wollen man der eigenen Heimat aber natürlich nicht wünschen, so Wojciech Tumidalski in der Rzeczpospolita.  

 

Dziennik/Gazeta Prawna: Alles in den Händen der Richter

Laut Małgorzata Kryszkiewicz vom Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna hänge indes nun alles nicht von der EU, sondern vielmehr von den Richtern selbst ab. Denn auch wenn viele von ihnen nach dem Urteil ihren Erfolg gefeiert hätten, so die Autorin, würden sich für sie nun schwierige Zeiten anbahnen. Der Oberste Gerichtshof, lesen wir weiter, habe ihnen ein gewaltiges Werkzeug in die Hände gegeben. Die Frage sei jedoch nun, ob sie von diesem auch tatsächlich Gebrauch machen werden. So würden als erste die Disziplinärgerichte auf dem Prüfstand stehen. Denn aus dem Urteil des Obersten Gerichtshofs gehe direkt hervor, dass diese Delikte von Richtern künftig nicht mehr an die Disziplinärkammer des Obersten Gerichtshofs als II. Instanz weiterleiten sollten. Wenn sich die Disziplinärgerichte an diese Richtlinie halten, so die Publizistin, könnten sie den Regierenden die Peitsche aus der Hand schlagen, die sie in letzter Zeit immer häufiger gegen aufmümpfige Richter angewendet hatten. Wenn die umstrittene Disziplinärkammer des Obersten Gerichtshofs keine Richterdelikte mehr zum Beurteilen erhalte, dann werde ihre Bedeutung sinken. 

Viel komplizierter sei indes das Problem des Nationalen Richterrates. Es wäre naiv zu denken, dass dieser nun von einem Tag auf den anderen seine Aktivität an den Nagel hängen werde. Sicherlich werde er weiterhin dem Präsidenten Kandidaten für Richterposten vorschlagen, die dieser prompt in den Richterstand berufen werde. Damit werde, mit der Zahl der unrechtmäßig ernannten Richter, auch die Zahl der anfechtbaren Urteile steigen. Und letztendlich werde auch hier vieles von der Haltung der einzelnen Richter abhängen. Jeder von ihnen werde entscheiden müssen, ob er diese zweifelhaften Urteile zur Kontrolle weiterleiten wolle, wie vom Obersten Gerichtshof empfohlen. 

Fazit: Den Gerichten stehe erneut eine Zeit der Probe bevor. Und ihr Ergebnis werde zeigen, ob sie selbst verstehen, was es bedeute, eine der drei Gewalten zu sein, so Małgorzata Kryszkiewicz in Dziennik/Gazeta Prawna. 

 

Gazeta Wyborcza: PiS stürzt uns in die Anarchie

Ähnlich auch die Prognose in der linksliberalen Gazeta Wyborcza. Die Disziplinärkammer und der Nationale Richterrat tun erst mal so, als ob nichts geschehen sei, beobachtet in der heutigen Ausgabe die Kommentatorin Ewa Ivanova. So habe die Disziplinärkammer auch nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs gestern ihre Arbeit fortgesetzt. Und der Vorsitzende des Nationalen Richterrats Leszek Mazur erklärte, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs keine Konsequenzen für beide Institutionen haben werde. Das stimme natürlich nicht, so die Autorin. Denn wenn der neue Richterrat und die Disziplinärkammer das Urteil ignorieren, würden sie die Anarchie und das juristisches Chaos besiegeln, das die PiS im Gerichtswesen verursacht habe. Auf der einen Seite würden dann der Oberste Gerichtshof sowie die ordentlichen Gerichte stehen, die das Urteil des Europäischen Gerichtshofs realisieren, auf der anderen die Politiker der PiS und die Nutznießer der Justizreform unter den Richtern, die sicherlich auch auf die Unterstützung des demolierten Verfassungsgerichts werden zählen können. In längerer Perspektive würden diejenigen, die dem Europäischen Gerichtshof und dem Obersten Gerichtshof den Krieg erklärt hätten vor strafrechtlicher Verantwortung nicht fliehen können. Kurzfristig erwarte uns jedoch eine schwierige Zeit, schreibt Ivanova. 

 

Gazeta Polska Codziennie: Oberster Gerichtshof stürzt uns in die Anarchie

Geht es indes nach der regierungsnahen Gazeta Polska Codziennie, ist es der Oberste Gerichtshof, der das Gerichtswesen und das ganze Land in die Anarchie stürzen will. “Ich schaue auf dieses Urteil mit großer Trauer”, zitiert das Blatt den PiS-Abgeordneten Tomasz Rzymkowski, “denn es steht im Widerspruch zum Grundgesetz. Laut der Verfassung ist der Nationale Richterrat die Institution, die über die Unabhängigkeit der Richter wacht. Falls eine Kammer des Obersten Gerichtshofs anderer Meinung ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem. Das ist natürlich der Versuch, Chaos und noch größere Anarchie im Justizwesen zu stiften”, so der Politiker. Zudem glaube er, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, besonders im Kontext der Anfechtung der Kompetenzen der Disziplinärkammer völlig unverständlich ist, so Rzymkowski im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie.

Und der Kommentator des Blattes Adrian Stankowski fügt in seinem Autorenkommentar hinzu, dass der Oberste Gerichtshof entschieden hat, dass die Demokratie in Polen illegal ist. Weitere Urteile des Obersten Gerichtshofs, in dem dieses die Illegalität des polnischen Parlaments, des Präsidenten oder ausgewählter Fragmente der Verfassung feststellt, seien nun nur noch eine Frage der Zeit. Die Tatsache, dass solche Urteile keine rechtliche Grundlage haben, sei deren Befürwortern egal, denn für sie seien wir Polen alle illegal und unsere Meinung bedeutungslos. Höchste Zeit, auf diesen richterlichen anti-staatlichen Aufstand mit entschiedenen Handlungen zu antworten, so Adrian Stankowski in seinem Kommentar für Gazeta Polska Codziennie.


Autor: Adam de Nisau