Deutsche Redaktion

Rzeczpospolita: "Zynismus und Verantwortungslosigkeit"

28.01.2021 11:10
Wichtiges Thema in den Zeitungen ist heute die gestrige Veröffentlichung der Begründung zum umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts in Bezug auf eugenische Abtreibung.
Policja podczas demonstracji przeciwko zaostrzeniu prawa aborcyjnego w Warszawie
Policja podczas demonstracji przeciwko zaostrzeniu prawa aborcyjnego w WarszawiePAP/Radek Pietruszka

Wichtiges Thema in den Zeitungen ist heute die gestrige Veröffentlichung der Begründung zum umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts in Bezug auf eugenische Abtreibung. Hintergrund: Am 22. Oktober 2020 hatte das Verfassungsgericht die Möglichkeit einer Abtreibung bei schweren Schäden des Fötus als verfassungswidrig eingestuft, was zur Entstehung des so genannten Frauenstreiks und zu zahlreichen Protesten auf den Straßen führte. Nach der Veröffentlichung der Begründung, durch die das Urteil rechtskräftig wird, ist es gestern erneut zu Protesten gekommen.

Rzeczpospolita: Zynismus und Verantwortungslosigkeit

In einer Situation, in der wir, wie nie zuvor nationale Einheit brauchen, spendiere uns die Regierungspartei mit der Veröffentlichung der Urteilsbegründung wieder einmal Krieg, schreibt in seinem Autorenkommentar zum Thema der Publizist der konservativen Rzeczpospolita, Michał Szułdrzyński. Denn es sei schwer, Zweifel daran zu haben, dass für die gesellschaftlichen Spannungen - als Architekt des Systems, in dem es zu dem Urteil gekommen ist - PiS-Chef Jarosław Kaczyński die Verantwortung trägt. Gerade jetzt, wenn wir geschlossenes Handeln bei der Impfaktion und der Bekämpfung der Pandemie brauchen würden, um die Wirtschaft und das Wohlergehen des Staates zu sichern, so Szułdrzyński, sei dies eine extrem verantwortungslose Haltung. Und zynisch. Es wundere die Leidenschaft, mit der die Regierenden den neulichen Kampf um das Leben eines im Koma liegenden Polen im britischen Plymouth in ein Medienspektakel verwandelt hätten, wenn man bedenke, dass im vergangenen Jahr, wegen des durch die Pandemie verursachten Zusammenbruchs des Gesundheitssystems, 75 Tausend Menschen mehr gestorben seien, als im Vorjahr. Aber es sei eben einfacher PR rund um die Überreichung eines diplomatischen Passes an einen Unbewussten zu betreiben, als den Staat zu reformieren und dadurch tausende von Leben zu retten. 

Die moralische Einschätzung von Abtreibung, so der Autor, spiele bei dem ganzen Konflikt keine Rolle. Denn es gehe hier nicht um einen Kampf zwischen der christlichen und antichristlichen Zivilisation. Die christliche Zivilisation könne nicht auf Zynismus und der Verwandlung von Religion in eine politische Waffe aufgebaut werden, da ein schlechter Baum keine guten Früchte tragen könne. 

Der Chef des Nationalen Fernsehens TVP, Jacek Kurski habe sich vor einigen Tagen beschwert, dass sich schlechte Zeiten “für Menschen anbahnen, die ihre Heimat, den guten Gott und Freiheit lieben”. Und man müsse ihm Recht geben. Die größte Bedrohung für diese Menschen stelle der Zynismus der Regierungspartei dar, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. 


Dziennik/Gazeta Prawna: Konsequenzen des Urteils sofort spürbar

Das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna macht indes auf Unregelmäßigkeiten bei der Vorbereitung der Begründung aufmerksam. Auch ein Teil der als regierungsnah geltenden Richter, berichtet die Zeitung, habe das Dokument nicht unterzeichnen wollen. “Es gab einen ersten Vorschlag, an dem weitergearbeitet werden sollte. Stattdessen ist nach einiger Zeit, wie aus dem Nichts, eine fertige Version erschienen, die man nur unterzeichnen sollte. Wenn sie durch Richter des Verfassungsgerichts vorbereitet wurde, dann auf jeden Fall nicht durch alle Mitglieder des Spruchkörpers”, so ein Richter des Verfassungsgerichts anonym im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna. 

In der Begründung, lesen wir weiter, sei das Urteil vom Oktober zwar etwas aufgeweicht worden, so dass eine Wiedereinführung von Abtreibungen bei tödlichen Fehlbildungen des Fötus unter strengen Auflagen durch die Legislative theoretisch möglich wäre. Doch bevor die Vorschriften geändert werden (falls überhaupt), werden zunächst einmal die Konsequenzen des Urteils sofort nach dessen Veröffentlichung im Gesetzblatt spürbar sein. “Seit ein paar Stunden laufen unsere Telefonleitungen heiß. Es rufen Schwangere an, bei denen tödliche Fehlbildungen des Fötus nachgewiesen worden sind. Es rufen auch Ärzte an, die die Eingriffe durchführen sollten”, so die Chefin der Föderation für Frauen und Familienplanung Krystyna Kacpura im Interview mit Dziennik/Gazeta Prawna. 


Rzeczpospolita: Kommissare kehren zu polnischen Gerichten zurück

Die gestrige Aktivierung der zweiten Etappe des Rechtsstaatlichkeits-Verfahrens könnte eine Ankündigung entschiedenerer Schritte gegen Polen sein, samt der Anwendung der Verordnung zur Bindung von EU-Mitteln an die Rechtsstaatlichkeit, schreibt in seiner Stellungnahme für die Rzeczpospolita der Publizist Tomasz Pietryga. Denn, obwohl die Ende 2020 durch Regierungschefs Mateusz Morawiecki und Viktor Orban ausgehandelten Schlüsse des EU-Ratsgipfels die Anwendung der Verordnung auf Situationen beschränken sollten, in denen die Finanzen der EU direkt gefährdet seien, laufe im EU-Parlament gerade die juristische Diskussion darüber, ob die Konklusionen des EU-Rats tatsächlich eine weitere Anwendung der Verordnung blockieren.

In seinem Brief an die Juristische Kommission des EU-Parlaments schreibe der ehemalige EU-Parlamentschef Antonio Tajani direkt, dass die Konklusionen des EU-Rats deutlich den Charakter von “Leitlinien” überschreiten. Der EU-Rat, so das Argument, könne nicht einseitig die Auslegung der Verordnung diktieren. Die Entscheidung der Juristischen Kommission könne ein wichtiger Hinweis für die Europäische Kommission werden. Und die Öffnung der zweiten Etappe der Rechtsstaatlichkeitsprozedur soll indes prüfen, ob Polen im Konflikt um die Gerichte mit der EU weicher geworden, wenn diese eine Atombombe in Form einer möglichen Blockade von Auszahlungen hinter dem Rücken hält, so Tomasz Pietryga in der Rzeczpospolita.

Autor: Adam de Nisau