Deutsche Redaktion

"Höchste Zeit, den Absichten Russlands zuvorzukommen"

27.06.2022 16:34
Statt zu reagieren, sollte die NATO im Konflikt mit Russland agieren und den Absichten Moskaus zuvorkommen, sagt General Roman Polko. Der Chef des Insituts für Internationale Angelegenheiten erwartet vom NATO-Gipfel keinen Durchbruch und mahnt zu mehr strategischer Kreativität. Außerdem geht es auch um die immer deutlicheren Auswirkungen der Inflation auf das Kaufverhalten der Polen.
Mam nadzieję, że rząd uzyska więcej niż jedną brygadę - powiedział Radosław Sikorski przed szczytem NATO
Mam nadzieję, że rząd uzyska więcej niż jedną brygadę - powiedział Radosław Sikorski przed szczytem NATOshutterstock.com/Photosebia

Fakt: Höchste Zeit, den Absichten Russlands zuvorzukommen

Es sei höchste Zeit, dass die Länder des NATO-Gipfels auf Experten hören und nicht jeder Staat, wie bisher nur auf sich selbst schaut, sagt Ex-Chef der Spezialeinheit GROM General Roman Polko. Denn, so Polko, wenn der Westen gespalten sei, werde Putin die Länder gegeneinander ausspielen. Dies habe der russische Präsident bereits deutlich gezeigt.

Aus diesem Grund sei es höchste Zeit, Russlands Absichten vorauszusehen und ihnen zuvorzukommen, so Polko. Aus seiner Sicht sollte die NATO zudem in einzelnen Mitgliedstaaten beginnen, die Finanzierung der Streitkräfte ernster zu nehmen. Wichtig sei schließlich auch die Aufnahme von Finnland und Schweden in die NATO. Der Ersatz von rotierenden Bataillon-Kampfgruppen durch die ständige Präsenz von Brigade-Kampfgruppen an der Ostflanke des Bündnisses sei ein weiterer Schritt, den man nicht vergessen dürfe, betont Polko im Gespräch mit Fakt. 

Dziennik/Gazeta Prawna: NATO-Gipfel in Madrid wird keinen Durchbruch bringen

Die Erwartungen an den NATO-Gipfel sind hoch. Doch seiner Meinung nach werden sie keinen Durchbruch bringen, sagt der Chef des Insituts für Internationale Angelegenheiten Sławomir Dębski im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna. Die rotierende Präsenz der an der Ostflanke stationierten NATO-Truppen, so der Verteidigungsexperte, werde weiterhin gelten. Soldaten des Bündnisses würden weiterhin jeweils für ein paar Monate kommen und dann ausgewechselt. Dieses Konzept sei nach der Besetzung der Krim durch Russland entstanden. Im Fall einer zunehmenden Aggressivität Russlands würden diese Kräfte dann zu Brigaden oder sogar Divisionen aufgestockt. Bis heute gebe es jedoch keine dauerhafte Abschreckungsinfrastruktur an der NATO-Ostflanke.

Zu erwarten sei auch eine Verurteilung des russischen Angriffskriegs und die Schlussfolgerung, dass sich die Sicherheitslage des Bündnisses verschlechtert habe. NATO-Mitgliedstaaten dürften auch dazu aufgerufen werden, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen.

Es sei nichts Neues erfunden worden, betont Dębski im Interview mit der Zeitung. Washington habe lediglich alte Papiere entstaubt und vermarkte diese jetzt als angemessene NATO-Antwort auf die erneute russische Aggression gegen die Ukraine. Dies halte er für einen Fehler und ein Zeichen für mangelnde strategische Kreativität. Es wirke, als würde man eine politische Direktive umsetzten, um so wenig wie möglich tun zu müssen. Gleichzeitig werde der Öffentlichkeit aber den Eindruck einer Reaktion der Allianz vermittelt.

Polen, heißt es weiter, sei es zwar gelungen seine Verbündeten dazu zu bewegen, ihre Reaktion auf Russlands Aggressivität zu überdenken. Bislang bleibe die Reaktion der NATO aber weiterhin unzureichend. Außerdem akzeptiere die NATO, dass sie Territorien ihrer Mitgliedsstaaten in einer möglichen Anfangsphase des Krieges verlieren könnte. Die NATO-Streitkräfte seien eher darauf ausgerichtet, verlorenes Territorium zurückzuerobern. Die Befreiung durch die NATO könne jedoch für Hunderttausende Menschen zu spät kommen, befürchtet Dębski. 

Russland habe nicht das Potenzial, eroberte Gebiete einzunehmen. Daher würden sie auf Terror und Massenverbrechen zurückgreifen. Viele Experten und Politiker, so Dębski, würden fälschlicherweise davon ausgehen, dass die russische Kampfmethode der Vergangenheit angehöre, wie der Krieg in der Ukraine beweise. Deshalb stelle sich die Frage, ob man es sich leisten könne, einen Teil des Bündnisterritoriums aufzugeben, um Zeit zu gewinnen, bis die NATO-Truppen zum Einsatz bereit wären. Die Antwort Polens und der Ostflanke laute „Nein“, so der Direktor des polnischen Instituts für internationale Angelegenheiten im Interview mit Dziennik/Gazeta Prawna. 

Rzeczpospolita: Der Dämon der Verarmung ist erwacht

Die Polen beginnen, den Gürtel enger zu schnallen, beobachtet in der aktuellen Ausgabe der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita Bogusław Chrabota. Laut einer aktuellen Umfrage für das Blatt, erinnert der Autor, würden die Polen zunehmend auf Unterhaltung verzichten und ihre Benzinkosten reduzieren. Jeder Dritte kaufe weniger Lebensmittel. Es, so Chrabota, gehe uns zwar trotzdem immer noch relativ gut. Für diejenigen, die sich an die Volksrepublik Polen erinnern, würden wir heute geradezu im Luxus leben. Doch die Pandemie und der Krieg müssten zwangsläufig früher oder später einen Einbruch der Wirtschaft verursachen. Die meisten Ökonomen würden nicht mehr fragen „ob“, sondern „wann“ es dazu komme. Die Preisanstiege würden dann Druck auf Löhne und Sozialleistungen ausüben. Schon nach den Sommerferien könnte Polen daher zu einer großen Arena für soziale Proteste, Streiks und Demonstrationen werden, schreibt Chrabota.

Auch der Arbeitsmarkt, lesen wir weiter, dürfte sich verändern. Denn Verarmung führe immer zu einer Abwanderung von Arbeitskräften in reichere Märkte, was im Falle Polens fast alle Staaten der EU seien. Die soziale Antwort auf die Abwanderung würden wachsende Panik und progressiver Radikalismus sein. Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen, würden die Politiker in Sachen sozialer Versprechen trotzdem leider bald wieder um die Wette laufen. Dass all das zu Lasten des Steuerzahlers gehen und die Verarmung nur beschleunigen werde, werde man natürlich verschweigen.

Was könnte Polen retten? Nur zwei Sachen. Erstens ein Ende des Krieges. Darauf hätte man aber keinen Einfluss. Zweitens, eine schmerzhafte Spar-Therapie. Polens derzeitige Anführer, die davon schwärmen, dass das Land bald den Reichtum der Deutschen einholen werde, würden sich allerdings für einen solchen Schritt wohl nie entscheiden, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita.

Autor: Piotr Siemiński