Deutsche Redaktion

"Ende des Waffenstillstands in der EU"

19.09.2022 13:02
Mit der angedrohten Blockade von Mitteln aus den Kohäsionsfonds für Ungarn sendet die EU-Kommission nicht nur an Budapest, aber auch an Warschau, urteilt die konservativ-liberale Rzeczpospolita. Und: Die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie macht die heutige Ausgabe mit einem gemeinsamen Foto von Bundeskanzler Scholz und Oppositionsführer Donald Tusk auf.
Spotkanie KE i spodziewany wniosek o zawieszenie części unijnych funduszy dla Węgier
Spotkanie KE i spodziewany wniosek o zawieszenie części unijnych funduszy dla WęgierShutterstock/symbiot

Rzeczpospolita: Ende des Waffenstillstands in der EU

Die EU-Kommission hat sich für eine präzedenzlose Strafe für Ungarn entschieden und die Blockade eines Teils der für das Land reservierten Kohäsionsfonds empfohlen. Dies ist ein klares Signal, dass der Krieg im Osten die Populisten in Osteuropa nicht mehr schützen wird, urteilt in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Jędrzej Bielecki. Die europäische Exekutive, so der Autor, habe am Wochenende zwei Argumente gegeneinander abwägen müssen. Einerseits das Risiko einer offenen Konfrontation mit Budapest, das bei der Absegnung von weiteren EU-Sanktionen gegen Russland über ein Vetorecht verfügt. Andererseits die Bändigung des wachsenden Autoritarismus an der Donau, der sich als ansteckend erweisen könne. Die Kommission habe sich letztendlich für das zweite Argument entschieden und die Einfrierung von 65 Prozent der Mittel (im Wert von 7,5 Milliarden Euro) empfohlen, die Budapest aus drei Kohäsionsprogrammen erhalten sollte. Diese Entscheidung müsse nun zwar noch der EU-Rat absegnen. Da dafür jedoch nur eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen (55 Prozent der Mitgliedstaaten, die von 65 Prozent der Bevölkerung bewohnt werden) notwendig sei, sei dieses Szenario relativ real. 

Die Argumentation der EU-Kommission, so Bielecki, sehe in diesem Fall wie folgt aus: Die Abhängigkeit der EU von russischem Gas sei inzwischen sowieso schon von 40 Prozent auf 10 Prozent gesunken und es stünden derzeit auch keine neuen Sanktionspakete an. Viel wichtiger sei daher nun, dass die EU eine kohärente Gemeinschaft demokratischer Staaten bleibe, denn nur so könne die Unterstützung für die Ukraine langfristig aufrechterhalten werden. Die Situation Ungarns, so der Autor, sei auch ein Signal für Polen. Denn Budapest sei zwar in erster Linie für Korruption bestraft worden, die sich an der Weichsel nicht so stark ausgebreitet habe. Das EU-Parlament habe vergangene Woche jedoch gleichzeitig auf Probleme aufmerksam gemacht, die auch Warschau nicht fremd seien: Die Unabhängigkeit von Gerichten, Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die Botschaft aus Brüssel sei damit klar: Der politische Waffenstillstand im Zusammenhang mit der russischen Invasion sei vorbei. Nicht nur mit Ungarn. Auch mit Polen. Die EU-Kommission werde daher vermutlich ihre Position in Bezug auf die eingefrorenen Mittel aus dem Wiederaufbaufonds für Polen verhärten. Und vielleicht auch mit der Blockade von Mitteln aus dem “normalen” Budget der EU drohen. Kurz vor den Wahlen wäre dies eine fatale Nachricht für die Regierenden, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Polen hat nicht auf Reparationen verzichtet

Die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie setzt in der heutigen Ausgabe das Thema der polnischen Reparationsforderungen an Deutschland in gleich drei Artikeln fort. Im Aufmacher der heutigen Ausgabe suggeriert die Zeitung, dass Bundeskanzler Scholz in einer neulichen Rede in Potsdam mit Anspielungen an die deutsch-polnischen Vereinbarungen zum Grenzverlauf indirekt auf die Reparationsforderungen aus Warschau geantwortet hat. Und die Tatsache, dass der ebenfalls in Potsdam anwesende Oppositionsführer Donald Tusk in keiner Weise auf diese Insinuationen reagiert habe, so die Zeitung, sei ein Skandal. In einem weiteren Artikel kontert das Blatt die Aussagen derjenigen, laut denen die Reparationsfrage abgeschlossen ist. Und zitiert unter anderem den Historiker des Touro College in Berlin, Prof. Stephan Lehnstaedt, laut dem “die Auszahlung einer Entschädigung für Polen für die Verbrechen und Zerstörungen eine historische Pflicht Deutschlands” sei. Falls die Bundesregierung eine offizielle schriftliche Forderung von Polen erhalte, so Lehnstaedt, dann werde sie diese aus moralischen Gründen nicht vollständig ablehnen können. Ähnlicher Meinung sei auch der deutsche Arzt und Historiker Dr Karl Heinz Roth, der darauf aufmerksam mache, dass sich Reparationsforderungen nicht verjähren. 

Wie schließlich Józef Menes vom Rat des Jan-Karski-Instituts für Kriegsschäden im Interview mit der Zeitung betont, habe Polen nie rechtskräftig auf Reparationen von deutscher Seite verzichtet. Es, so Menes, sei nie eine entsprechende diplomatische Note an die DDR überreicht worden. Die Notiz vom damaligen Generalsekretär der kommunistischen Partei Bolesław Bierut, auf die sich Deutschland gerne bei der Diskussion über Reparationen berufe, sei de facto nicht mehr als eine Pressemitteilung, eine politische Deklaration, die jedoch die formellen Bedingungen für rechtskräftige Gesetze nicht erfülle. Die entsprechende Entscheidung über den Verzicht auf Reparationen sei einige Tage zuvor in Moskau verkündet worden, auf Druck des damaligen Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl. Doch die Notiz von Bierut sei nie in den offiziellen Gesetzbüchern veröffentlicht worden. Und das, obwohl die Prozeduren für den Umlauf von neuen Gesetzen in den 50-er Jahren sonst einwandfrei funktioniert hätten. Schließlich sei der Staatsrat der Volksrepublik Polen dazu befugt gewesen, auf Reparationen zu verzichten und nicht der Ministerrat. Solche formellen Fehler gebe es noch viel mehr, so Menes. Daher sei das Dokument von Bierut aus seiner Sicht nie in Kraft getreten. Auch in neueren Dokumenten, wie etwa dem deutsch-polnischen Abkommen von 1991 würden Reparationen nicht direkt erwähnt. Es wundere ihn nicht, dass Bundeskanzler Scholz das Thema als abgeschlossen darstelle. Das liege im Interesse Deutschlands. Wenn jemand jedoch ein Verbrechen begehe, dann müsse er oft auch für die materiellen Schäden aufkommen. Im Falle von Deutschland sei es dazu bis dato nicht gekommen, so Józef Menes im Interview mit Gazeta Polska Codziennie.

Autor: Adam de Nisau