Deutsche Redaktion

"Putin nicht zu Kompromissen bereit"

30.12.2022 13:15
Der erneute, massive russische Raketenangriff auf die Ukraine kurz vor Neujahr beschäftigt auch die polnischen Tagesblätter. Außerdem geht es auch um die Stimmungslage in den russischen Eliten und der russischen Gesellschaft.
In der Ukraine sind nach Regierungsangaben seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar mehr als 700 Objekte der kritischen Infrastruktur zerstrt worden.
In der Ukraine sind nach Regierungsangaben seit Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar mehr als 700 Objekte der kritischen Infrastruktur zerstört worden. PAP/STR

Rzeczpospolita: Russland versucht, mit Terror Verhandlungen zu erzwingen

 Nach dem russischen Angriff sind wieder einmal Millionen Ukrainer ohne Strom gewesen, schreibt auf ihrer Titelseite die konservativ-liberale Rzeczpospolita. Wie das Blatt beobachtet, hätten die Ukrainer dieses Mal aber auch auf die Attacke geanwortet. Zum dritten Mal hätten ukrainische Drohnen den Flugplatz für strategische Bomber in Engels sowie Objekte in den grenznahen Regionen Russlands angegriffen. Zudem würden die auf die Ukraine fallenden Raketen die Derussifizierung am Dnjepr zusätzlich beschleunigen. In Odessa sei das Denkmal von Zarin Katharina II demontiert worden, das jahrelang eines der Wahrzeichen der Stadt gewesen sei. Auch das Denkmal des zaristischen Militärkommandanten Alexander Suworow sei entfernt worden. 

Russland zähle darauf, dass die Ukrainer, ohne Wasser, Gas, Strom und Heizung, schließlich aufgeben, ein Kriegsende unter russischen Bedingungen akzeptieren und sich mit weiteren Gebietsverlusten abfinden, schreibt dazu der Publizist des Blattes Rusłan Soszyn. Putin, so der Autor, wisse, dass ein solcher “Frieden” schnell zu einer Destabilisierung der Lage in der Ukraine führen würde und möglicherweise mit dem Sturz von Präsident Volodymyr Selenskyj enden könnte. Dies sei das vorrangige Ziel des Kremls und der wichtigste Grund dafür, dass Putin die Ukraine am Donnerstag mit mehr als 120 Raketen überzogen habe. 

Vieles, so der Autor, deute jedoch darauf hin, dass Putins Entourage ihm nicht die ganze Wahrheit verrät. Denn die Ukraine sei keine isolierte Festung. Jeden Tag würden Stromgeneratoren, Wasserfilter und weitere zum Überleben notwendige Ausrüstung an den Dnjepr geschickt. Kiew erhalte Waffen, in ein paar Monaten würden auch die ersten US-Patriot-Systeme folgen. Mögen den Russen die Raketen schon viel früher ausgehen, als der Ukraine die Solidarität der freien Welt, so Rusłan Szoszyn in der Rzeczpospolita.

Gazeta Wyborcza: Putin nicht zu Kompromissen bereit

Die linksliberale Gazeta Wyborcza spricht in der aktuellen Ausgabe mit dem russischen Soziologen Iwan Prieobrażenski über die Stimmungslage in den russischen Eliten und der russischen Gesellschaft. Ausgangspunkt für das Gespräch sind die seit vielen Jahren erstmals abgesagten zwei alljährlichen Auftritte von Putin: die so genannte direkte Linie, also die alljährliche Konferenz mit dem Volk und die Rede vor der Föderalversammlung. Wie Prieobrażenski beobachtet, breche Putin damit nicht nur mit einer Tradition, sondern verletze auch geltendes Recht. Denn laut der Verfassung, die Putin selbst so modifiziert habe, dass sie in jedem Aspekt auf ihn zugeschnitten sei, sei der Staatspräsident verpflichtet, sich jedes Jahr mit einer Ansprache an die Föderalversammlung zu wenden. Für die Absage des russischen Präsidenten, so der Soziologe, gebe es zwei Gründe. 

Erstens habe er nichts zu sagen. Zweitens wisse er auch nicht so recht, an wen er sich wenden sollte. Es sei allgemein bekannt, dass die beiden Veranstaltungen nicht an die Beamten und Politiker, sondern an die Nation gerichtet seien. Aufgrund der Niederlagen der russischen Armee und der Tatsache, dass die “Kriegspartei”, also die politischen Aktivisten, die Putins Politik gegenüber der Ukraine bis vor Kurzem aktiv unterstützt hatten, beginnen, sich von ihm abzuwenden, wisse der Präsident nicht, welche Gruppe ihn nun noch unterstützen würde. 

Die “Kriegspartei”, so der Experte, würden 10-15 Prozent der Russen unterstützen, vor allem ehemalige Geheimdienstler, Ex-Militärs und Nationalisten, die sich als “radikale Patrioten” bezeichnen. Diese Gruppe habe Putin und den Propagandisten geholfen, die Illusion zu kreieren, dass die Russen den Krieg mehrheitlich unterstützen. Ohne diese Menschen, hätte es die Propaganda nicht geschafft. Nun brauche Putin aber einen neuen Motor, der die Zustimmung antreiben könnte, nicht nur für den Krieg aber auch für ihn selbst. Und er suche nach Wegen, diese Gruppe zu bilden. Das erkläre auch die Inkongruenz seiner neulichen Auftritte. Putin erwecke den Eindruck eines unentschiedenen Menschen in der Garderobe, der unterschiedliche Verkleidungen anprobiere und frage, worin er am meisten gefalle. Denn der russische Präsident habe infolge des Kriegs auch einen weiteren Teil seiner Kernwähler verloren: Frauen in mittlerem Alter und Seniorinnen. Diese Gruppe würde den Krieg in geringerem Maße unterstützen und sich um das Schicksal ihrer Ehemänner und Söhne sorgen. 

Derzeit, so der Soziologe, würden nur wenige Russen daran glauben, dass Russland diesen Krieg gewinnen werde. Gleichzeitig hätten dieselben Menschen ihre Haltung gegenüber Putin nicht grundsätzlich geändert. Ein Teil von ihnen wolle die Position und das Vermögen nicht verlieren, das sie gänzlich Putin verdanken. Andere würden sich vor Putin fürchten, da sie wissen, dass er sie zerstören könne. Sie hätten auch Angst voreinander, denn sie wissen, dass Änderungen im Machtgefüge zu Konflikten und Rangeleien um Einflüsse und Geld führen werden.

Generell, so Prieobrażenski, habe der Großteil der Russen, also 60-70 Prozent den Krieg keinen einzigen Moment lang unterstützt. Das Problem sei, dass dieselbe Mehrheit gleichzeitig nichts getan habe, um den Krieg zu stoppen. Einer Gründe sei ein Mangel an Strukturen, die die Aktivitäten von Regimegegnern koordinieren könnten. Russland brauche etwas, das man mit der polnischen “Solidarność” vergleichen könnte und das den Einwohnern helfen würde, die von der Propaganda geschaffene Illusion zu durchschauen, dass alle um sie herum anders denken. 

Für das kommende Jahr prognostiziert Prieobrażenski, dass Putin erneut eine großangelegte Offensive gegen die Ukraine starten wird. Auch eine weitere Mobilisierungswelle sei so gut wie sicher. Erst wenn die russische Armee im kommenden Jahr eine Niederlage erleide und die Ukrainer die Krim zurückerobern, dann werde man reale Verhandlungsvorschläge von Putin erwarten können. Die Zukunft Russlands sehe er generell in dunklen Farben. Am wahrscheinlichsten sei eine ökonomische und politische Degradation, die viele Jahre dauern könne. Das einzige Plus sei, dass ein Staat, der degradiert, voraussichtlich nicht so aggressiv sein wird, so Iwan Prieobrażenski im Gespräch mit Gazeta Wyborcza. 

Autor: Adam de Nisau