Deutsche Redaktion

"Wichtige Fragen zwischen Nachbarn"

06.04.2023 12:01
In welchen drei Dimensionen spielen die Beziehungen zwischen Warschau und Kiew eine besonders wichtige Rolle? Ist eine Union zwischen der Ukraine und Polen der sicherste Weg zur Stabilität in Mittel- und Osteuropa? Die gestrige Visite von Ukraines Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj in Warschau ist natürlich das Thema Nummer eins in den aktuellen Pressekommentaren. Aber auch der heutige Besuch von Macron und von der Leyen in Peking und seine Rolle für die Zukunft der Ukraine bleibt nicht unbemerkt. 
Prezydenci Wołodymyr Zelenski i Andrzej Duda spotkali się w Warszawie
Prezydenci Wołodymyr Zelenski i Andrzej Duda spotkali się w WarszawiePAP/Radek Pietruszka

Rzeczpospolita: Wichtige Fragen zwischen Nachbarn

Alle Unzufriedenen, die darauf hinweisen, dass Selenskyj Polen erst jetzt eine offizielle Visite abstattet, wolle er daran erinnern, dass es sich um den ersten offiziellen Staatsbesuch des ukrainischen Staatsoberhaupts seit Kriegsbeginn handele, schreibt in seinem Kommentar der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota. Bisher, so der Autor, habe der ukrainische Staatspräsident bei seinen unangekündigten, “technischen” Auslandsreisen den Westen mobilisiert und um Unterstützung geworben, ohne die sein Land nicht überlebt hätte. Im Falle von Polen sei die Situation anders. Selenskyj und die ganze Ukraine seien sich bewusst, dass Polen nicht mobilisiert werden müsse. Wie sehr wir motiviert seien, die bedrohte ukrainische Staatlichkeit zu verteidigen, hätten wir schon in den ersten Kriegstagen gezeigt. Selenskyj verstehe, wie sehr der Kampf, den sein Volk führe, auch im tiefsten Interesse Mitteleuropas und des größten Staats der Region, also Polens sei. Und er verstehe sicherlich die Notwendigkeit, die Partnerschaft zwischen Warschau und Kiew zu vertiefen. Denn die Beziehungen zu Polen, als größter Demokratie der Region, seien der wichtigste Garant der Stabilisierung und der Entwicklung der Ukraine. Und eben das sei der Schwerpunkt dieser ersten offiziellen Auslandsvisite gewesen. 

Unabhängig von den Gesten und dem ganzen diplomatischen Protokoll, so Chrabota, würden die Beziehungen zwischen beiden Staaten vor allem auf drei Ebenen eine Schlüsselrolle spielen. Die erste sei Polens Rolle als konsequenter Anwalt der NATO- und EU-Ambitionen der Ukraine. Schlechte Beziehungen zwischen Kiew und Warschau würden zwingend auch die Beitrittsperspektive in Bezug auf beide Gemeinschaften in weite Ferne rücken. Die zweite Ebene sei die wirtschaftliche, militärische und politische Zusammenarbeit. Der ukrainische Präsident, der sich bewusst sei, das sein Land eine langjährige Warteschlange in die EU erwarte, werde in Anlehnung an seine Nachbarn starke europäische Verbindungen aufbauen wollen. Dies sei eine Methode, die Ukraine zu stärken, aber auch eine Logik vollendeter Tatsachen; Anstrengungen, die mit einem Zertifikat der "Europäizität" enden sollen. Je zahlreicher und fester die Beziehungen zu den Nachbarn, desto glaubwürdiger auch das Zertifikat. Die dritte Dimension seien die Ukrainer in Polen. Denn, dies mag etwas brutal klingen, aber man könne sagen, dass die ukrainische Minderheit an der Weichsel gewissermaßen auch eine Geisel der gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Warschau und Kiew ist. Je besser das Verhältnis zwischen beiden Staaten, desto größer sei die Garantie, dass die Dämonen der Fremdenfeindlichkeit nicht plötzlich zu erwachen drohen. 

Die polnische Staatsräson, fährt der Autor fort, sei indes das Spiegelbild der Interessen Kiews. Ein ukrainischer “Puffer”, der vollständig demokratisch sei, sei ein viel besserer Garant für Stabilität als ein korrupter pro-russischer Autoritarismus. Polen könne auch wirtschaftlich von den Milliarden profitieren, die der Westen in den Wiederaufbau der zerstörten Ukraine pumpen werde. Laut Experten von Allianz Trade könne sich die Unterstützung in der Wiederaufbauphase auf 100-150 Milliarden Euro an privaten Investitionen und rund 350 Milliarden Euro an Auslandshilfen belaufen. Wenn polnische Unternehmen sich in diesen Prozess engagieren, werde dies die Konjunktur im Lande für einige Jahre ankurbeln. 

Natürlich, so Chrabota, würden die strategischen Ziele nicht automatisch die tausend aktuellen Themen aus dem Weg räumen, die auch in Warschau diskutiert worden seien. Dazu würden die Lieferung von polnischen Rüstungsgütern, Fragen rund um den Getreidetransit, Garantien für polnische und ukrainische Unternehmen, der Status der ukrainischen Bürger in Polen oder das aufgeschobene Thema der historischen Geschichtspolitik gehören. All diese Themen sollten in den neuen bilateralen Vertrag aufgenommen werden, der dringend auf den Schreibtischen der Politiker auf beiden Seiten der Grenze landen sollte. Es bleibe nur zu hoffen, dass sich die Arbeiten an dem Dokument in beiden Hauptstädten der Endphase nähern, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita. 

Rzeczpospolita: Lasst uns die Republik wiederaufbauen

Der Geschichtsprofessor der Warschauer Universität Tomasz Grzegorz Grosse nimmt die gestrige Visite zum Anlass, um die Idee einer tieferen Union zwischen Polen und der Ukraine aufzugreifen. Ziel der Nachkriegsordnung, so der Experte, sollte die Stabilität und Sicherheit der Region sein. Viele Analytiker seien jedoch der Meinung, dass ein schneller Beitritt der Ukraine zur EU oder NATO durch Westeuropa blockiert werde. Im Übrigen zeige dies, wie sehr sich die geopolitischen Interessen der beiden Teile des Kontinents  voneinander unterscheiden. Eine grundlegende Bedingung für einen dauerhaften Frieden, fährt der Autor fort, wäre in erster Linie der Aufbau eines starken Sicherheitssystems in Mittel- und Osteuropa, vertieft durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Nur so könne man Moskau aufhalten und sich zugleich auch auf die Möglichkeit eines stärkeren Engagements der USA im Pazifik vorbereiten.  Eben aus diesem Grund hätten Experten aus den USA (zuletzt in "Foreign Policy"), aber auch aus Polen für einen Wiederaufbau der historischen Republik und eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen den Staaten unserer Region, allen voran zwischen Polen und der Ukraine, argumentiert. 

In einem solchen Falle, so Tomasz Grzegorz Grosse, würde sich das Problem des EU- und NATO-Beitritts der Ukraine sozusagen von selbst lösen. Ein solches Szenario scheine derzeit zugegebenermaßen noch relativ unwahrscheinlich. Und doch habe die Bedrohung aus dem Osten die politischen Eliten unseres Teils des Kontinents schon einmal zur mutigen Entscheidung über die Gründung der Union in Krew und dann der Union von Lublin geführt. Nur der Mut dazu, Polen-Litauen zu einer Union von drei Nationen auszuweiten, habe damals noch gefehlt. Dies sei ein historischer Fehler gewesen, den Moskau mit der Zeit gnadenlos ausgenutzt habe, so Tomasz Grzegorz Grosse in der Rzeczpospolita. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Guter und schlechter Polizist zu Besuch in Peking

Die polnische Presse macht auch auf den Besuch von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in China aufmerksam. Macron sei nach Peking gereist, um Geschäfte zu machen und von der Leyen, um den kommunistischen Behörden mit dem Finger zu drohen, urteilt in der heutigen Ausgabe das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. “Die EU-Kommissionschefin ist eigentlich mit drei Aufgaben nach China gereist: die Grenze der für die EU akzeptablen Kooperation mit Russland zu markieren, die diplomatischen Beziehungen mit Peking aufrechtzuerhalten und Xi Jinping zu einem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj zu überzeugen”, so einer der EU-Diplomaten im Gespräch mit dem Blatt. Die rote Linie bei der Zusammenarbeit zwischen Peking und Moskau seien, wie aus Deklarationen beider EU-Politiker im Vorfeld des Treffens hervorgehe, chinesische Waffenlieferungen an Russland. Heute werde sich herausstellen, inwieweit sich die Erwartungen Brüssels sich in den Deklarationen des chinesischen Staatsoberhaupts widerspiegeln werden. Unabhängig von den Ergebnissen der heutigen trilateralen Beratungen, werde den Dialog mit Peking während seiner selbstständigen Mission kommende Woche EU-Chefdiplomat Josep Borrell fortsetzen, so Dziennik/Gazeta Prawna.  

Autor: Adam de Nisau