Deutsche Redaktion

"NATO-Mitgliedschaft ist die einzige reale Sicherheitsgarantie"

27.04.2023 13:20
Wieso hält sie ein Sondertribunal zur Verfolgung von russischen Kriegsverbrechen für unabdingbar? Was sind Grundbedingungen für einen nachhaltigen Frieden? Und wieso sollte die Ukraine von der NATO eine reale Beitrittsperspektive erhalten? Darüber spricht im Interview mit der Rzeczpospolita Estlands Regierungschefin Kaja Kallas. Außerdem geht es auch um die Frage, wie viel (oder wenig) Deutsche über die deutsche Besatzung in Polen wissen. Und: Das Vermögen der Polen schrumpft. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Dla pokoju w Europie potrzebujemy Ukrainy w UE i NATO - oceniła Kaja Kallas
Dla pokoju w Europie potrzebujemy Ukrainy w UE i NATO - oceniła Kaja Kallastwitter.com/kajakallas

Rzeczpospolita: NATO-Mitgliedschaft ist die einzige reale Sicherheitsgarantie

In einem Interview für die konservativ-liberale Rzeczpospolita bezieht sich Estlands Regierungschefin Kaja Kallas unter anderem auf die Diskussion über die Schaffung eines Sondertribunals zur Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen. Ein solches Organ, so Kallas, sei notwendig, denn wenn die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, werde sich die Geschichte auch in Zukunft wiederholen. Es reiche ein Blick in die Vergangenheit: Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so die Politikerin, seien die Nazis vor dem Nürnberger Tribunal angeklagt und vor den Augen der Öffentlichkeit verurteilt worden. Dies habe auch dazu geführt, dass die Deutschen von den durch die Nazis begangenen Verbrechen erfahren haben und ein Gefühl der nationalen Schuld für diese Verbrechen in der Gesellschaft hervorgerufen. In Russland sei nichts dergleichen geschehen. Es habe niemals ein Moskauer Tribunal zur Aufarbeitung von Verbrechen gegeben, die an Polen verübt worden seien, wie Katyn oder von in Estland und den anderen baltischen Staaten sowie der Ukraine begangenen Verbrechen. Die Russen würden nichts davon wissen. Sie seien nie zur Verantwortung gezogen worden und seien überzeugt, dass sie ein Imperium sind. Sie seien die Herrscher der Sowjetunion und der umliegenden Staaten gewesen und würden sich wieder so fühlen wollen. Aber dieses Imperium habe für Länder, wie Estland und Polen, große Grausamkeiten bedeutet, so Kaja Kallas. 

Gefragt nach den Suggestionen einiger westlicher Politiker, laut denen sich die Ukraine an den Verhandlungstisch setzen und möglicherweise auch Gebietsverluste akzeptieren sollte, betont die Politikerin, dass jeder wisse, dass Frieden besser ist als Krieg. Aber Frieden sei eben nicht gleich Frieden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die westlichen Staaten in Frieden gelebt, sich entwickelt und Wohlstand für die Menschen geschaffen. Auch in Estland habe zwar Frieden geherrscht, doch die Kultur sei zerstört, Menschen seien nach Sibirien deportiert und die Eliten umgebracht worden. Deswegen betone sie in Gesprächen mit westlichen Politikern, dass wir einen nachhaltigen Frieden brauchen. Und dieser beinhalte auch die Verfolgung von Kriegsverbrechen und die Berücksichtigung des Friedensplans von Präsident Selenskyj. Es sei notwendig, mehr darüber zu sprechen, was hinter dem Eisernen Vorhang geschehen sei, denn die Erfahrungen der Region würden auch erklären, was heute in der Ukraine geschehe. 

Zudem, so Kallas, sei eine Mitgliedschaft in der NATO de facto die einzige reale Sicherheitsgarantie. Alles andere funktioniere nicht. Polen und Estland würden sich in der NATO befinden und eben daher, anders als die Ukraine, nicht im Krieg sein. Natürlich würde sie verstehen, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied werden könne, solange Krieg herrsche. Aber die NATO müsse ganz klar sagen, dass die Ukraine nach Kriegsende der NATO beitreten werde. Die Aggression dürfe sich nicht für Russland auszahlen, denn auch andere Diktatoren mit imperialistischen Ambitionen würden den Krieg und dessen Konsequenzen für den Aggressor genau beobachten, so Estlands Regierungschefin Kaja Kallas im Gespräch mit der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Deutsche erstaunt von der Ausstellung zum Massaker von Wola

Die Deutschen seien erstaunt von der Ausstellung zum Massaker von Wola gewesen, die am Montag in Berlin eröffnet wurde, sagt die Direktorin des Pilecki-Instituts Prof. Magdalena Gawin im Gespräch mit der nationalkonservativen Gazeta Polska Codziennie. Im Saal sei es still geworden, als Wanda Lurie, die Warschauer Niobe, in einer der Archivaufnahmen ihre Erfahrungen schilderte. Lurie habe die Exekution überlebt, sie habe sechs Schüsse erhalten, sie sei in den letzten Wochen der Schwangerschaft gewesen. Sie habe in der Warteschlange zur Exekution mit ihren drei Kindern gewartet. Alle seien ums Leben gekommen. Die Anwesenden im Saal, fährt Gawin fort, hätten auch die unter Eid abgelegten Zeugenberichte von denjenigen erhalten, die das Massaker überlebt haben. Auf die Frage, wer von deutscher Seite bei der Eröffnung gefehlt habe, nennt Gawin in erster Linie deutsche Politiker. Es seien Berliner und Journalisten erschienen. Dabei sei das Thema der deutschen Besatzung in Polen der deutschen Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Im Schulunterricht könne man nichts darüber erfahren. Eines der Themen, das die Ausstellung ebenfalls thematisiere, sei, neben der Schrecken des Massakers, auch die fehlende Aufarbeitung der dabei begangenen Verbrechen. Reinefahrt, der die Exekutionen befohlen und beaufsichtigt habe, sei in seinem eigenen Bett gestorben, es habe nicht einmal einen Prozess gegen ihn gegeben. Und für den Schutz der Verbrecher würden nicht die Nazis die Verantwortung tragen, sondern die demokratische Bundesrepublik Deutschland. Es sei das Justizsystem der BRD gewesen, das den Nazi-Verbrechern Straflosigkeit garantierte. Nachdem 1950 ein Verbot der Todesstrafe und der Extradition im Grundgesetz verankert worden sei, sei Polen ausschließlich auf die deutsche Justiz angewiesen gewesen. Mit wenigen Ausnahmen seien Massenexterminationen und Morde an Polen nicht bestraft worden. Dies sei, wie die Direktorin des Pilecki-Instituts betont, die zweite Schuld Deutschlands.

Wie Gawin in dem Gespräch zudem erklärt, dokumentiere das vom Pilecki-Institut ins Leben gerufene Rafał-Lemkin-Zentrum für die Dokumentation von russischen Verbrechen in der Ukraine auf weltweit größte Skala die durch Russland in der Ukraine begangenen Verbrechen. Staatsanwälte würden sich auf im Strafkodex vorgesehene Taten beschränken. Aus den vom Lemkin-Zentrum gesammelten Augenezeugenberichten könne man indes erfahren, wie die Menschen die Besatzung erlebt haben, wie sie sich versteckt, gefühlt und was sie gedacht haben. Die Entscheidung über die Gründung des Zentrums, so Gawin, habe sie einen Tag nach Putins Rede getroffen, mit der der Krieg begonnen habe. Ein wichtiger Beweggrund sei das Schicksal der polnischen unter Eid abgelegten Zeugnisse nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Diese seien bis zu den Prozessen unter Verschluss gehalten worden. Die Erinnerung an bewaffnete Konflikte werde daher durch Zeugnisse ohne Eid gestaltet. Wenn die Ukraine über diese nicht verfüge, werde sie den Informationskrieg verlieren. Sowohl das Zentrum als auch die Journalisten müssen auf die russische Propagandaoffensive vorbereitet sein, in der Moskau versuchen werde, den Krieg als Bürgerkrieg in der Ukraine darzustellen, so Prof. Magdalena Gawin im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Vermögen der Polen geschrumpft

Im vergangenen Jahr seien die nominalen Ersparnisse der Polen am langsamsten seit der Krise von 2008 gewachsen. Und real gesehen, seien sie deutlich geschrumpft, schreibt das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna auf seiner Titelseite. Im Vergleich zum Vorjahr, so das Blatt, sei der Wert der Finanzaktiva der Polen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt von 106 Prozent auf 91 Prozent zurückgegangen - so stark wie zuletzt während der globalen Finanzkrise 2008. Die wichtigsten Gründe dafür seien einerseits die Inflation, die zu einer Anhebung des nominalen Bruttoinlandsprodukts geführt habe. Die nominale Summe der Ersparnisse sei indes praktisch unverändert geblieben, was bedeute, dass ihr realer Wert geschrumpft sei. Zweitens hänge dies auch mit den billigeren Aktien und Obligationen zusammen, die unsere Ressourcen auch im nominalen Sinne schmälern. Erwähnenswert sei schließlich auch die geringe Bereitschaft der Polen, zu sparen. In diesem Bereich würde das Land weit unter dem EU-Durchschnitt liegen. Es habe im vergangenen Jahr zwar EU-weit keinen einzigen Staat gegeben, in dem das Verhältnis von Finanzressourcen zum Bruttoinlandsprodukt gestiegen wäre. Polen bleibe jedoch, vor Rumänien, auf dem vorletzten Platz in der Staatengemeinschaft, wenn es um den persönlichen Wohlstand der Bürger gehe und falle in diesem Bereich sogar im Vergleich zu anderen Staaten der Region immer weiter zurück, so Dziennik/Gazeta Prawna. 

Autor: Adam de Nisau