Deutsche Redaktion

"Die Debatte nicht sterben lassen"

05.09.2023 13:21
Der Chefredakteur der Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota, zeigt sich zunehmend besorgt vom Zustand der öffentlichen Debatte und von den Folgen der fortschreitenden Polarisierung. Und nach Beispielen für die vom Publizisten thematisierte Zuspitzung des Tons gegenüber politischen Konkurrenten muss man auch in den heutigen Pressetiteln nicht lange suchen.
Czy język debaty publicznej jest odzwierciedleniem nastrojów panujących w społeczeństwie?
Czy język debaty publicznej jest odzwierciedleniem nastrojów panujących w społeczeństwie?Shutterstock/Elnur

Rzeczpospolita: Die Debatte nicht sterben lassen

Im polnischen Berg-Kurort Karpacz beginnt heute ein alljährliches Wirtschaftsforum. Eigentlich ein Ort des Dialogs, in dem frei über die wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart debattiert werden sollte, wie etwa der Krieg in der Ukraine, die Grenzen der Globalisierung oder Künstliche Intelligenz. Doch ist ein solcher sachbezogener Dialog zwischen politischen Konkurrenten heute in Polen noch möglich, fragt der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota. Wenn er die aktuelle, wohl brutalste Hasskampagne in der Geschichte der polnischen öffentlichen Medien gegen den Erzrivalen von PiS-Chef Kaczyński und Oppositionsführer, Donald Tusk betrachte, habe er Zweifel. Er, so der Autor, sei nicht sicher, ob das konservative Lager sich der Tatsache bewusst ist, wie wenig Platz emotionale Zerstörung für Dialog lässt und was geschehen werde, wenn die von ihm gewählte Methode der politischen Vernichtung des Gegners keinen Wahlerfolg bringen sollte. Werde Polen nach Oktober 2023 überhaupt noch auf die Gleise einer traditionellen Demokratie zurückkehren können? Er wisse es nicht. 

Dabei, lesen wir weiter, gebe es genug externe Herausforderungen, über die er in Karpacz gerne echte Diskussionen hören würde, statt der gesalbten, offenbarten Wahrheiten, die von den Regierenden und ihren Akolythen verkündet werden. Polen, erinnert Chrabota, stehe vor der Bedrohung eines Krieges im Osten. Eines Kriegs, der nur einige Tage dauern sollte, doch dessen Ende heute immer noch nicht in Sicht sei. “Wir”, so Chrabota, “müssen uns darauf vorbereiten, dass dieser Konflikt unsere Außenpolitik für viele Jahre prägen, aber auch Einfluss auf unsere Sicherheit und Wirtschaft sowie auf soziale und ethnische Fragen nehmen wird”. Polen bleibe ein Frontstaat, was rationale Planung und politischen Konsens erfordere. “Wer im Kreis der politischen Elite versteht das?”, fragt der Autor rhetorisch. Auch könne Polen nicht neutral in der europäischen Debatte über Integration oder in der globalen Debatte über Globalisierung und Klima bleiben. “Politiker, die Polen ausschließlich im Kontext interner Angelegenheiten sehen, müssen verstehen, dass ihre Zeit vorbei ist. Polen ist Europa. Polen ist die Welt. Als Teilnehmer an der öffentlichen Debatte sind wir bereit für den härtesten Dialog, aber er muss geführt werden. Man sollte den Gegnern nicht den Mund verbieten oder sie mit einer Hasskampagne zerstören. Unter anderem deshalb wurde das Forum geschaffen. Möge es auch diesmal diesem Zweck dienen”, so der Chefredakteur der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Tusk hat Rentenalter der Polen mit Deutschland verhandelt

Wer nach Beispielen für Polarisierung und die Zuspitzung der öffentlichen Debatte Ausschau hält, muss auch in der heutigen Presse nicht lange suchen. “SKANDAL \ Angela Merkel hat der PO-PSL-Koalition befohlen, die polnische Gesellschaft zu zwingen, bis zum Tod zu arbeiten”, lesen wir etwa im heutigen Aufmacher der nationalkonservativen Gazeta Polska Codziennie. Aus dem Artikel unter dem Titel “Tusk hat das Rentenalter der Polen mit Deutschland abgesprochen” erfahren wir, dass Ex-Premierminister Donald Tusk, laut einer gestern veröffentlichten Notiz,  die Anhebung des Rentenalters ein halbes Jahr, bevor die Polen darüber informiert wurden, mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel besprochen hatte. Merkel habe Tusk geraten, die Entscheidung mit der "demographischen Situation" zu begründen. - "Während der Amtszeit von Donald Tusk wurde hinter unserer westlichen Grenze entschieden, wie Polen aussehen soll", sagt dazu Ministerin Marlena Maląg im Gespräch mit dem Blatt. Und Professor Arkadiusz Jabłoński, Soziologe an der Katholischen Universität Lublin, urteilt, dass es keine Gewissheit gibt, dass die Bürgerplattform bei einem eventuellen Wahlsieg nicht zu diesem Konzept zurückkehren wird.

Gazeta Wyborcza: Hasskampagne gegen Agnieszka Holland

Über ein weiteres Beispiel berichtet in der heutigen Ausgabe die linksliberale Gazeta Wyborcza. “Im Dritten Reich haben die Deutschen propagandistische Filme produziert, die Polen als Banditen und Mörder darstellten. Heute haben sie dafür Agnieszka Holland”, mit  diesen Worten hat gestern Justizminister Zbigniew Ziobro die Regisseurin des Films "Grüne Grenze" angegriffen, der heute beim Film-Festival in Venedig seine Premiere hat und am Donnerstag auf dem Festival in Toronto gezeigt werden soll. Woher die Nervosität im Regierungslager? Der Film, so die Zeitung, zeige brutale und illegale Praktiken der polnischen Grenzschützer sowie die Tragödien der Migranten, die auch eine Folge der Politik der polnischen Behörden seien.

Ja, sagt Holland in einem Interview, das in voller Länge am Samstag im Blatt erscheinen wir, sie spreche direkt die Verantwortung der Politiker für den Tod und das Leiden der Menschen an der Grenze an. Und sie stelle die Frage: “Wie ist es möglich, dass solche politischen Entscheidungen straffrei getroffen werden können?” Es sei eine wichtige Angelegenheit, aber in ihrem Film sei die Frage der politischen Verantwortung marginal. Ebenso wie die geopolitische Fragestellung. Ja, die ganze Situation sei das Ergebnis der Intrigen Putins und Lukaschenkas. Sie versuche jedoch, sie breiter, über unseren engen polnischen Blickwinkel hinaus zu betrachten.

In "Grüne Grenze", so Holland, konzentriere sie sich auf den Menschen. Auf die Menschen, die durch die Entscheidungen von Putin und Lukaschenka, aber auch von Kaczyński und Kamiński sowie anderen Entscheidungsträgern, die politische Verantwortung für Tod, Folter, Rechtsbrüche und entmenschlichende Propaganda gegen Migranten tragen, leiden. Warum sie den Film gemacht habe? Aus Respekt vor dem menschlichen Leben. Alles habe mit der Wut darüber begonnen, was in Usnarz geschah [wo im August 2021 32 Afghanen in einer Falle zwischen der polnischen und belarussischen Grenze feststeckten]. Zum ersten Mal, so die Regisseurin, hätten wir gnadenlose Grenzschützer gesehen, und wahrscheinlich hätten sich die Grenzschützer zum ersten Mal so verhalten. Denn vorher hätten sie die Afghanen humanitär behandelt, ihnen Wasser und Nahrung zur Verfügung gestellt, sogar Medikamente für sie gekauft. Bis der Befehl gekommen sei, dass sie ihnen nichts geben und niemanden zu ihnen lassen dürfen. “Wie fühlen sich Menschen, die diesen erschöpften, verängstigten Menschen eines Tages Wasser gaben und am nächsten Tag zusehen mussten, wie dieselben Menschen gezwungen waren, Wasser aus Pfützen zu trinken?”, fragt Holland.

In jedem Land, fährt die Regisseurin fort, könne Propaganda dazu führen, dass Menschen solche Aktionen akzeptieren und bei einigen auch sadistische Instinkte wecken. Sie sei von solchem Verhalten nicht überrascht. Denn sie sei überhaupt nicht überrascht über das Böse. Der Mensch habe das Potenzial zum Bösen, das leicht aktiviert werden kann. Sie wundere mehr, woher die selbstlose Güte komme, die wir auch an der Grenze beobachten können.

Der Zustrom von Migranten nach Europa, fährt Holland fort, werde eine kulturelle Veränderung bedeuten, und das nicht in die Richtung, die die Europäer wünschen würden. Das seien echte Ängste, für die sie keine Lösungen habe. Sie könne sie nur spüren und benennen. Aber sie könne auch sagen, dass wir durch Folter, Beleidigungen und Mord an diesen Menschen keine realen Lösungen erreichen, ganz zu schweigen von der Abscheulichkeit und Immoralität solcher Verhaltensweisen, so Agnieszka Holland im Gespräch mit Gazeta Wyborcza.

Rzeczpospolita: Der Sieg wird von kurzer Dauer sein

Und zu guter Letzt noch einmal zurück zur Rzeczpospolita, in der Jacek Czaputowicz, der ehemalige polnische Außenminister in der Regierung PiS, in einem ausführlichen Artikel denjenigen antwortet, die in für seine Kritik an den Plänen zur Durchführung der Parlamentswahlen und des Referendums am selben Tag angegriffen hatten. Im Kern seiner Kritik steht die Befürchtung, dass die Registrierung der Personen, die sich weigern, die Referendumskarte anzunehmen, gegen das Prinzip der geheimen Wahl verstoßen könnte. Der Grund: „Das”, so Czaputowicz, “wird meiner Meinung nach zeigen, dass diese Personen nicht für PiS gestimmt haben, was gegen das Prinzip der geheimen Wahl verstößt.“ Diese Taktik sei grob genäht und verstoße gegen die Prinzipien der Demokratie. Und die Bürger könne es in eine “Situation der moralischen Erpressung” versetzen, die von den Zeiten des Kommunismus oder der gegenwärtigen Situation in Weißrussland gar nicht weit entfernt sei.

Zum Vorwurf, er würde mit seinen Aussagen das Vertrauen in die Wahlkommission untergraben, entgegnet Czaputowicz, dass er deren Integrität nirgends in Frage stellt, sondern darauf hinweist, dass auch ihre Mitglieder in eine unangenehme Situation gebracht werden, in der sie den Wählern die Annahme der Referendumskarte anbieten und eine Weigerung in der Wählerliste vermerken müssen, was als eine Art von Druck wahrgenommen werden könnte. Viele Mitglieder der Kommissionen würden sich in einer unbequemen Situation wiederfinden, wenn sie wüssten, wer von ihren Nachbarn oder Bekannten die Referendumskarte nicht angenommen haben. Dies erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht für PiS gestimmt haben und verstoße gegen das Prinzip von geheimen Wahlen. 

Bei ein wenig gutem Willen, so Czaputowicz, sei es immer noch möglich, all dies zu vermeiden, indem man die Wählerlisten in zwei Kopien ausdruckt, so dass die Wähler an zwei verschiedenen Stellen bestätigen können, dass sie die entsprechenden Karten erhalten haben, so Czaputowicz in der Rzeczpospolita. Andernfalls wachse das Risiko, dass etwa der Europäische Gerichtshof sich des Themas annimmt und die Legitimität der Wahlen anfechtet, so Czaputowicz in der Rzeczpospolita.

Autor: Adam de Nisau