Deutsche Redaktion

"Rechtstaatlichkeit - im Ernst oder zum Schein?"

30.10.2023 12:33
Das Tauziehen rund um die Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen ist noch in vollem Gange. Doch schon jetzt machen sich viele Publizisten Gedanken darüber, wie eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit nach einer Machtübernahme durch die Opposition eigentlich aussehen könnte. Und ob die EU-Kommission sich bei der Freigabe der Mittel an Polen von Sorge um Rechtsstaatlichkeit oder von politischen Symphathien leiten lässt. Eines scheint klar: die Opposition wird eine harte Nuss zu knacken haben. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Zbigniew Ziobro wypowiedział się we Włocławku na temat kary śmierci
Zbigniew Ziobro wypowiedział się we Włocławku na temat kary śmierciŁukasz Siekierski/ Shutterstock

Rzeczpospolita: Rechtstaatlichkeit - im Ernst oder zum Schein?

Die Aussagen von Donald Tusk nach seinen Treffen in Brüssel, dass für die Freigabe der Gelder aus dem nationalen Wiederaufbauplan kein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erforderlich sein wird, hätten selbst seine Anhänger überrascht, schreibt in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita der Publizist Tomasz Pietryga. Tusk habe, wie der Autor erinnert, zuvor mit Ursula von der Leyen und anderen prominenten EU-Politikern gesprochen. Falls die Aussage von Tusk wahr sein, würde dies eine plötzliche Absenkung der Standards der EU-Kommission bedeuten. Dies wiederum würde die Ernsthaftigkeit der bisherigen Absichten Brüssels in Bezug auf die polnische Rechtsstaatlichkeit in Frage stellen. Habe sich Brüssel von echter Sorge um den Rechtsstaat in Polen leiten lassen oder von opportunistischer Politik, um eine unliebsame  Regierung zu behindern? Und jetzt, da der Gegner verloren habe, könne man von den Grundsätzen abweichen? In den nächsten Monaten werde sich zeigen, ob die Forderung nach Standards von politischen Sympathien abhänge. Oder ob Donald Tusk nur erneut rhetorische Kunstgriffe angewendet habe, so wie damals, als er sagte, dass die Gelder aus dem nationalen Wiederaufbauplan am Tag nach den gewonnenen Wahlen freigegeben würden? Die Realität sei viel komplexer, so Tomasz Pietryga in der Rzeczpospolita.

Rzeczpospolita: Gesetzesverstöße müssen zur Rechenschaft gezogen werden

Und wenn es um konkrete Gesetze geht, die die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen sollen, wird die Regierung eine harte Nuss zu knacken haben. Ein Teil der Juristen, unter anderem die Mitglieder des Vereins polnischer Richter Iustitia, spricht sich für eine harte Abrechnung mit, aus der Sicht vieler Experten, unrechtmäßig ernannten Richtern aus. Für Verstöße gegen die Verfassung und die Abkehr von den Idealen des Richteramts sollten die Mitglieder des “neo-KRS” (unrechtmäßig berufener Nationaler Richterrat), die sogenannten Doppelgänger im Verfassungsgericht und die Disziplinärrichter zur Rechenschaft gezogen werden, sagt der Iustitia-Vorsitzende, Prof. Krystian Markiewicz im Gespräch mit der Rzeczpospolita.

Die Abrechnung mit allen, die das Gesetz gebrochen haben, so Markiewicz, sei die Essenz eines demokratischen Staates. Ein unabhängiges Gericht entscheide, ob ein Verstoß vorliege und welche Konsequenzen dies habe. Unter den Richtern sollten diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die eindeutig die Verfassung der Republik Polen verletzt haben, nämlich die Mitglieder des Nationalen Justizrats der vorherigen und aktuellen Amtszeit sowie die Doppelgänger im Verfassungsgericht, die die nicht verfassungskonformen Änderungen im Justizministerium unterstützt hätten. Diese Personen hätten einen Verfassungsputsch begangen und sollten disziplinarisch und möglicherweise strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie hätten an verfassungswidrigen Aktivitäten teilgenommen, Unterschriften zur Unterstützung gesammelt, sich zur Wahl in den politisierten Justizrat KRS gemeldet und seien auf bereits besetzte Plätze im Verfassungsgericht gewählt worden. Sie hätten entsprechende Gesetzesänderungen unterstützt und “diese autokratische Maschine organisiert”. Für ihn, so Markiewicz, sei es inakzeptabel, dass sie Richtergewänder tragen. Es sei eine Schande für das Land. Als Richter könne er sich nicht vorstellen, dass Richter Gesetze und Urteile nicht respektieren. Auch die Kammer für berufliche Verantwortung im Obersten Gerichtshof sollte sofort aufhören zu funktionieren, so Prof. Markiewicz im Gespräch mit Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Wir vertreten Tausende von Richtern, die zerstört werden sollen

In der nationalkonservativen Gazeta Polska Codziennie kommt heute mit dem Vorstandsmitglied des Vereins “Richter der Republik Polen” Maciej Pragłowski ein Vertreter derjenigen zu Wort, die mit den Plänen der Opposition nicht übereinstimmen. Die Bürger, so Pragłowski, müssten auch eine andere Stimme aus dem Richtermillieu hören als die der Vereine Iustitia oder Themis, insbesondere wenn ihre Projekte eine ernsthafte Bedrohung für die Justiz darstellen. Daher laute das Motto des Vereins "Das Wohl der Republik ist höchstes Gesetz", so der Richter. Er, so Pragłowski, wolle betonen, dass der Verein die Stimme Tausender Richter vertritt, deren Berufung verneint wird und die mit verschiedenen Konsequenzen bedroht werden: der Entfernung aus dem Amt, Degradierung, Einleitung von Disziplinarverfahren, Verpflichtung zur Rückzahlung von Gehältern. Das seien die Stimmen, die man höre. Wenn dies nur von Politikern gesagt würde, könnte man es als eine Art politisches Spiel betrachten, aber es seien Richter, die in T-Shirts mit der Aufschrift "Verfassung" herumlaufen würden. Gemäß der geltenden Verfassung der Republik Polen, so Pragłowski, würden Richter vom Präsidenten ernannt, und daher seien alle diese Stimmen direkt gegen die Befugnisse des Präsidenten gerichtet. Plötzlich vergesse man, dass Richter unentlassbar und unabhängig sind. Das grundlegende Ziel der Tätigkeit seines Vereins sei die Verteidigung der Verfassung und der Bürger gegen Pläne, die in der Praxis jede rechtliche Ordnung in der Justiz abschaffen würden. 

Was die Aussagen von Iustitia betreffe, dass die Verfassungswidrigkeit des Nationalen Rates der Justiz durch einen Parlamentsbeschluss festgestellt werden sollte, sowie die Illegalität einiger Richter des Verfassungsgerichts, so seien aus der Sicht der “Richter der Republik Polen” alle solchen Ideen völlig konträr zur Verfassung. In Bezug auf die Rufe nach strafrechtlicher Verantwortlichkeit der derzeit amtierenden Richter, der Mitglieder des Nationalen Rates der Justiz oder der Richter, die Unterstützerbriefe für den Nationalen Rat der Justiz unterzeichnet hätten, müsse er daran erinnern, dass all diese Handlungen auf bestehenden Gesetzen basierten. Es sei in diesem Kontext schon seltsam, dass sowohl in der Zeit der sogenannten Entstalinisierung als auch nach dem Fall der Volksrepublik Polen Richter, die eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen hatten, praktisch keine Verantwortung übernahmen, niemand sich darüber empörte, dass sie immer noch Urteile fällen, und noch wichtiger, dass sie in der demokratischen III. Republik Polen sogar avanciert wurden, so Pragłowski. 

Autor: Adam de Nisau