Deutsche Redaktion

"Deutschlands Traum von einem europäischen Superstaat"

06.11.2023 12:55
Dient das Projekt der Vereinigten Staaten Europas vor allem deutschen Interessen? Wiieso ist die aktuelle Situation in der Ukraine so gefährlich für Polen? Sind die Meinungsunterschiede in der Opposition eher ein Grund zur Sorge oder zu Optimismus? Und: Der Mythos der gestohlenen Wahlen oder Polens Rückkehr nach Europa - welche Erzählung wird Staatspräsident Andrzej Duda stützen? Die Einzelheiten zu diesen Themen in der Presseschau.
Niemiecki rząd chroni informatorów. Welt zachęca obywateli do donoszenia, podobnie jak w czasach nazizmu
Niemiecki rząd chroni informatorów. "Welt" zachęca obywateli do donoszenia, podobnie jak w czasach nazizmuAlekk Pires / Shutterstock

Rzeczpospolita: Wird Polen wieder zu einem Problem? 

Die Anzeichen verdichten sich, dass sich der Moment nähert, in dem ein Versuch gestartet wird, den Krieg in der Ukraine einzufrieren, schreibt in seinem Feuilleton für Rzeczpospolita der Politologe Marek Cichocki. Kiew, so Cichocki, habe die Ziele seiner Offensive nicht erreichen und den russischen Landkorridor zur Krim nicht durchtrennen können. In den USA würden indes die Umfragewerte für Trump steigen, während gleichzeitig, im entscheidenden Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ein neuer schwerwiegender Konflikt im Nahen Osten ausbreche. Nach fast zwei Jahren eines aufreibenden Konflikts, so der Autor, scheinen wir nun in eine neue Phase einzutreten, in der es um die Aushandlung eines brüchigen und provisorischen Stillstandes des ungelösten Krieges um die Zukunft der Ukraine geht.

Aus polnischer Sicht, so Cichocki, werde dies keine einfache Zeit. Denn im Lichte ebendieser neuen Phase müsse man auch die neuesten Attacken des Kremls und Minsks gegen Polen betrachten, die das Land als den wichtigsten Kriegstreiber darstellen wollen. Vor dem Hintergrund der Position anderer Länder Mittelosteuropas, vor allem Ungarns und jetzt auch der Slowakei, sowie angesichts der wachsenden Kriegsmüdigkeit in Europa, werde es für die russische Propaganda zunehmend leichter, dieses Bild zu zeichnen. Zudem würden auch in den deutschen Medien kritische Stimmen zunehmen, die Polen vorwerfen, mit seiner Politik bezüglich Getreideembargos oder Transporten über die östliche Grenze die ukrainische Wirtschaft „abzuwürgen“.

All das vollziehe sich in einer Zeit, in der Polen eine politische Veränderung durchlaufe. Es zeige sich einmal mehr, dass unabhängig davon, wer in Warschau die Regierungsgeschäfte führe, Polen immer vor derselben strukturellen Herausforderung stehe: Wenn der Westen und Russland nach Verständigung suchen, werde Polen zum Störfaktor, der neutralisiert werden müsse. Im schlimmsten Fall, so Cichocki, könnten wir nach einigen Jahren genau dort landen, wo wir schon 2015 gewesen seien, als im Zuge der Ukrainekrise das Normandie-Format entstanden sei und die Minsker Gespräche begonnen hätten. Noch schlimmer wäre es, wenn Polen, vollends in innenpolitischen Belangen verfangen, dieses Thema ignoriere.

Würde Polen isoliert und von möglichen Gesprächen über die Bedingungen eines Waffenstillstands in der Ukraine ausgeschlossen, stünde das Land vor einer herben strategischen Niederlage mit weitreichenden Folgen, so Marek Cichocki in der Rzeczpospolita.


Do Rzeczy: Deutschlands Konzept der Vereinigten Staaten von Europa

In der aktuellen Ausgabe des nationalkonservativen Wochenblatts Do Rzeczy warnt Publizist und Schriftsteller Rafał Ziemkiewicz vor dem aus seiner Sicht gefährlichen Trend hin zur Entstehung eines europäischen Superstaates, in dem Nationalstaaten einen großen Teil ihrer Kompetenzen an Brüssel abgeben müssen. Dies, so der Autor, sei eine Idee, die vor allem deutschen Interessen diene. Es seien deutsche Politiker gewesen, die das Projekt der Vereinigten Staaten Europas entworfen und vorangetrieben haben, allerdings nicht als ein Zusammenschluss von gleichgestellten Partnern, sondern vielmehr zentriert um die stärkste Macht herum. Es sei gewissermaßen eine Wiederholung der Bismarckschen Einigung Deutschlands mit dem heutigen Deutschland in der Rolle Preußens.

Das traditionelle deutsche Nationalbewusstsein, so Ziemkiewicz, habe sich in einen neuartigen „europäischen“ Nationalismus verwandelt, der qualitativ ähnlich, aber rhetorisch andersartig auftritt. Es ist nicht länger "Deutschland über alles", sondern "Europa über alles" - wobei "Europa" letztlich für Deutschland stehe, dessen Eliten die europäischen Interessen definieren und dessen Wirtschaft sie garantiere. Dabei werde die deutsche moralische Überlegenheit, die das Übel des Nationalismus überwunden habe, nun als Maßstab für alle anderen präsentiert, insbesondere diejenigen, die aus deutscher Sicht in ihrer Rückständigkeit verharren.

Unter dem verführerischen Banner der "Vereinigten Staaten von Europa" verberge sich jedoch tatsächlich der alte westeuropäische Imperialismus, der auf Kosten schwächerer Nationen maximale Gewinne erzielen möchte – ein für Polen toxisches Unterfangen. Die zentralistische Eile ist keineswegs das Ergebnis eines tieferen Gedankens, sondern vielmehr eine Flucht nach vorn, ein Versuch, die Illusion westeuropäischer Macht auf Kosten Mittel- und Osteuropas sowie der Balkanregionen aufrechtzuerhalten.

Daher sei es entscheidend zu betonen: Mit dem Beginn der offenen Transformation der Europäischen Gemeinschaft in einen europäischen Staat erlösche die Legitimation für Polens Mitgliedschaft in der EU, die auf dem Referendum von 2003 beruht habe. Die Polen hätten nie der Abgabe nationaler Souveränität zugestimmt, noch sich einem fremden Einfluss in wesentlichen Lebensbereichen, moralischen Normen und Werten untergeordnet. Jede Zustimmung der polnischen Regierung zu Änderungen der EU-Verträge wäre unrechtmäßig, solange nicht ein neues Referendum die Haltung der Polen zur Unabhängigkeit erneut bestätigt, so Rafał Ziemkiewicz in Do Rzeczy. 


Gazeta Wyborcza: Meinungsunterschiede bei Regierungsbildung sind kein Grund zur Panik

Ein häufiger Vorwurf regierungsnaher Medien an die Opposition ist, dass diese eine Koalition von vielen unterschiedlichen Gruppierungen ist. Meinungsunterschiede in den Koalitionsverhandlungen werden häufig als Streit und Beweis für Regierungsfähigkeit dargestellt. Auf diese Vorwürfe antwortet in seinem Kommentar in der linksliberalen Gazeta Wyborcza der Publizist Roman Imielski. In acht Jahren unter der Ägide der PiS, so der Autor, hätten wir uns an einen Regierungsstil gewöhnt, bei dem Diskussionen ausgeblieben und Entscheidungen per Machtdemonstration oder mit politischem Druck durchgesetzt worden seien. Es erstaune daher einige, dass die Politiker der demokratischen Opposition, die aktuell einen Koalitionsvertrag aushandeln, durchaus unterschiedlicher Ansichten sind – und dass sie nicht zögern, diese offen zu kommunizieren. Es sei eben ein Kontrast zu der Missachtung der Verfassung, den nächtlichen Marathon-Sitzungen im Sejm, dem Durchpeitschen von Gesetzen und Unterbinden von Parlamentsdebatten durch limitierte Redezeiten und Abschaltung von Mikrofonen. Es seien Jahre des Absturzes in Sachen öffentlicher Diskurs und der Prinzipien der Kooperation und des demokratischen Austauschs gewesen. 

Im Gegensatz dazu sei demokratische Opposition ein vielgestaltiges Bündnis aus Parteien und Bewegungen, deren Meinungsunterschiede – ein natürlicher und gesunder Bestandteil jeder Demokratie – durch Dialog und Verhandlung zusammengeführt werden. So werde verhindert, dass eine einzige Gruppe ihre Agenda allen anderen aufzwinge. In Staaten, wie die Niederlande sei es aufgrund des Wahlsystems praktisch unmöglich, dass eine Partei alleine regiere. Es sei daher nicht nur normal, sondern auch ermutigend zu sehen, dass die Politiker der demokratischen Opposition unterschiedliche Perspektiven haben und diese nicht hinter verschlossenen Türen halten. Es gebe kein öffentliches Gerangel um Spitzenämter, keine inszenierten Medienleaks gegen Verbündete.

So sehe sie also aus, die Demokratie, die der PiS so fremd gewesen sei, die ein beispielloses Chaos in praktisch allen Lebensbereichen hinterlasse. Das große Aufräumen nach diesen Jahren sei kein Unterfangen, das man überstürzt angehen könne oder sollte, so Roman Imielski in der Gazeta Wyborcza.

Dziennik Gazeta Prawna: Bau des Zentralen Kommunikationshafens sollte fortgesetzt werden

Gewisse Flaggschiffprojekte der PiS, wie die Entwicklung des Zentralen Kommunikationshafens (CPK), die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und der Ausbau von Atomkraftwerken sollten jedoch laut den Polen konsequent fortgeführt werden. Und auch das Institut für Nationales Gedenken sowie das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA) sollten bewahrt werden. Die Wählerschaft erweise sich in ihren Erwartungen weit weniger radikal, als es einige Verfechter der „Null-Option“ erwartet haben, schreibt das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna unter Berufung auf eine aktuelle Meinungsumfrage von United Surveys. Laut der Studie würde die Mehrheit der Bürger (85 Prozent) die Notwendigkeit von Kernkraftwerken bejahen und ebenso eine Fortsetzung der Investitionen in die Landesverteidigung befürworten, mit Zustimmung von drei Vierteln der Befragten. Die Meinungen zum Zentralen Kommunikationshafen seien geteilt. Dennoch spreche sich eine knappe Mehrheit (51 Prozent) für dessen Vollendung aus. Am wenigsten Begeisterung finde das polnische Elektro-Auto Izera; 63 Prozent würden dieses Projekt bevorzugt aufgeben. Interessanterweise bestehe hierbei eine seltene Übereinstimmung zwischen den Anhängern der PiS und der Opposition. Zudem werde eine Bewahrung des Zentralen Antikorruptionsbüros von 61 Prozent und des Instituts für Nationales Gedenken von nahezu 65 Prozent der Befragten unterstützt. Die Opposition hatte im Wahlkampf die Abschaffung beider Institutionen angekündigt. 

Marcin Kierwiński von der Bürgerkoalition kritisiert in seinem Kommentar zu dem Votum die Annahmen der Umfrage: „Ein simples 'Nein' als Antwort kann irreführend sein, wenn es den Kontext ignoriert. Das polnische CBA hat sich in den letzten acht Jahren kaum mit der Korruption auf höchster Regierungsebene befasst und kann somit kaum als wahre Antikorruptionseinheit betrachtet werden. Es besteht die Notwendigkeit, diese von Grund auf neu zu etablieren“, so Kierwiński. 

Rzeczpospolita: Genug gezögert

Zuerst jedoch ist noch Staatspräsident Andrzej Duda am Zug, der heute an einem Wendepunkt seiner politischen Karriere steht, betont Michał Szułdrzyński von der konservativ-liberalen Rzeczpospolita. Duda, so der Autor, müsse entscheiden, ob er der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dabei hilft, die Erzählung von den „gestohlenen Wahlen“ zu zementieren, oder ob er die Opposition unterstützt, das Bild von „Polens Rückkehr nach Europa“ zu malen.

Es, so Szułdrzyński, sei offenkundig, dass die PiS in ihrem Narrativ bestrebt ist, an zwei historische Ereignisse anzuknüpfen. Zum einen das Jahr 1992, als die Regierung von Jan Olszewski aufgrund innerer Konflikte die Mehrheit im Sejm verloren habe. Damals habe die Rechte, in Erwartung des Machtverlusts, den Mythos eines nahezu putschartigen Umsturzes am 4. Juni geschaffen, bei dem die Gegner der Aufarbeitung des Kommunismus die Regierung stürzten. Darüber hinaus scheine die PiS auch Parallelen zu den Jahren 1944 bis 1947 ziehen zu wollen, als Stalins Gefolgsleute die Macht in Polen übernahmen und Widerstandskämpfer in die Hände der Geheimpolizei oder in den Untergrund getrieben wurden. Diese beiden Narrative, so Szułdrzyński, seien für die PiS von zentraler Bedeutung, um ihre Identität in einer politischen Landschaft neu zu formen, in der nun die Bürgerplattform (PO), die Polnischen Volkspartei (PSL), Polska 2050 und die Linken eine führende Rolle spielen und schnellstmöglich die Verantwortung für das Land übernehmen wollen. Denn mit jedem weiteren Monat werde die Euphorie über den Wahlsieg vom 15. Oktober schwinden, und die Herausforderung, die PiS zur Verantwortung zu ziehen, werde wachsen – besonders wenn diese daran arbeite, Beweise für ihr Fehlverhalten zu verschleiern.

Deswegen dränge die Opposition auch darauf, die Koalitionsvereinbarung schnellstmöglich zu besiegeln und Präsident Duda noch vor der ersten Sejm-Sitzung vorlegen zu können, nach dem Motto: Genug gezögert, es ist an der Zeit zu handeln! Der Staatspräsident werde entscheiden müssen, ob er Mateusz Morawiecki die Mission Impossible einer Regierungsbildung anvertraut oder sein politisches Lager enttäuscht, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. 

Autor: Adam de Nisau