Deutsche Redaktion

"Zeit für eine Erneuerung des Sejms"

13.11.2023 13:24
Am Tag der ersten Sejmsitzung nach den Parlamentswahlen dominieren in den liberalen Medien vor allem zwei Themen: Die Hoffnung auf positive Veränderungen im polnischen Parlament und die konfrontative Rede, in der PiS-Chef Kaczyński am Unabhängigkeitstag die Opposition, Deutschland und die EU scharf angegriffen hatte.
Marek Sawicki uważa, że każdy klub w Sejmie powinien mieć swojego wicemarszałka
Marek Sawicki uważa, że każdy klub w Sejmie powinien mieć swojego wicemarszałkaGrand Warszawski/Shutterstock

Rzeczpospolita: Zeit für eine Erneuerung des Sejms

In der Politik sind Symbole ebenso wichtig wie interne Machtkämpfe und langfristige Strategien. Daher ist die erste Sitzung des neuen Sejms - bei der der Chef von Polen 2050 zum Sejmmarschall gewählt werden könnte - von so großer Bedeutung, schreibt in seinem Kommentar zur ersten Sejmsitzung und gleichzeitig Aufmacher der aktuellen Ausgabe der Rzeczpospolita der Publizist Michał Kolanko. Diese Gelegenheit, einen ersten Eindruck zu hinterlassen, so der Autor, werde nicht wiederkehren, und die Erwartungen seien hoch. Der Vorsitzende von Polen 2050, lesen wir weiter, habe zurecht betont, dass der Verfall der Politik im Sejm begonnen habe und dass daher auch hier der Wandel einsetzen müsse. Als parlamentarischer Berichterstatter, so Kolanko, erinnere er sich lebhaft an die Amtsperiode 2015-2019 mit ihren langen Nachtsitzungen, den Einschränkungen der Medienfreiheit und den Strafen für Oppositionsabgeordnete. Die zweite Amtszeit sei indes von der COVID-Krise und der Krise rund um die umstrittenen Briefwahlen geprägt gewesen. Die Opposition, fährt der Autor fort, habe nun die einzigartige Gelegenheit, die Demokratie im Sejm und im gesamten Land wiederherzustellen. Gemäß unbestätigten Informationen seien auch bereits in der ersten Woche Änderungen geplant. So sollen die Barrieren vor dem Parlament und die sogenannte 'Sejm-Gefriertruhe' verschwinden, und die Blockade von Gesetzesinitiativen solle enden. Echte öffentliche Konsultationen und formelle Anträge sollen nicht länger nur leere Versprechen sein. Dies seien nur einige Elemente eines breiteren Reformpakets. Der Sejm solle insgesamt bürgernäher werden, was jedoch noch von der Realität überprüft werden müsse. Die derzeitige Opposition, bald die Mehrheit, stehe vor der Versuchung, sich an der PiS zu rächen und sie im Parlament so zu behandeln, wie die Opposition in den letzten acht Jahren behandelt worden sei. Eine solche Vorgehensweise würde jedoch nur eine Umkehrung der Rollen bedeuten, keine wirkliche Sanierung. Polen stehe vor vielen Herausforderungen wie Wohnungsbau, Energie, Verteidigung, Demografie und Frauenrechte. Die Anwendung der gleichen Methoden in umgekehrter Richtung sei nicht sinnvoll. Dies betreffe auch den Umgang mit der PiS und der Konföderation, die von Millionen von Wählern unterstützt worden seien. Eine echte Veränderung im Sejm würde bedeuten, dass er nicht länger nur eine ferngesteuerte Abstimmungsmaschine ist, sondern dass auch die neue Opposition Kontrolle ausüben kann. Die Frage bleibt, ob die Demokraten dafür bereit sind, so Michał Kolanko in der Rzeczpospolita.



Gazeta Wyborcza: Zeit, den Sejm zu reparieren

 

Sehr ähnlich im Ton auch der Kommentar von Paweł Wroński im Aufmacher der linksliberalen Gazeta Wyborcza. In der Stellungnahme erinnert Wroński an den 25. November 2015, als der damalige Senior-Marschall des Sejms, Kornel Morawiecki erklärte, dass das Gesetz wichtig, aber nicht am wichtigsten sei, da das Wohl der Nation über dem Gesetz stehe. Gesetze, die nicht dem Volk dienen, seien unrechtmäßig, so Morawiecki. Seit diesem Moment, so Wroński, habe der Niedergang der Rechtsstaatlichkeit in Polen begonnen. Der Sejm, der als Gesetzgebungsorgan und Diskussionsforum konzipiert gewesen sei, habe sich in ein Instrument der Macht verwandelt. Die heutige erste Sitzung des neuen Sejms markiere den Beginn eines Prozesses der Erneuerung. Der Sejm müsse wieder zum politischen Zentrum des Landes werden, wo Entscheidungen in Debatten mit der Opposition entstehen. Gesetzesinitiativen ohne öffentliche Konsultationen und juristische Prüfung sowie Last-Minute-Änderungen sollten vermieden und Warnungen vor potenziellen Verfassungsverstößen ernst genommen werden. Diese Schritte seien entscheidend, um die Integrität und die Würde des Sejms wiederherzustellen und sicherzustellen, dass er nicht länger nur eine ferngesteuerte Abstimmungsmaschine bleibt, so Paweł Wroński in der Gazeta Wyborcza.

 

Rzeczpospolita: Abschied von der EU

 

Sowohl die Rzeczpospolita, als auch die Gazeta Wyborcza machen auch an prominenter Stelle auf die konfrontative Rede von PiS-Chef Kaczyński am Unabhängigkeitstag aufmerksam, in der der Politiker Oppositionsführer Tusk, Deutschland und die EU scharf angegriffen hatte. 

 

PiS-Chef Kaczyński habe in seiner jüngsten Rede die Europäische Union als den Hauptfeind Polens dargestellt, schreibt dazu Michał Szułdrzyński. Er habe prophezeit, dass Polen, im Falle einer Machtübernahme durch Donald Tusk, seine Souveränität und Staatlichkeit an Deutschland und die EU verlieren würde. Diese extreme Rhetorik kennzeichne, wie Szułdrzyński beobachtet, einen radikalen Kurswechsel in Kaczyńskis Politik. Während seiner Amtszeit habe er, trotz seiner Kritik an der EU, Kompromisse eingehen müssen. Jetzt, wenn er die Macht abgeben müsse, nutze er die EU als einen bequemen Sündenbock, um die Schuld für innenpolitische Probleme zu externalisieren. Kaczyńskis Sprache sei deutlich radikaler als die seiner Parteikollegen. Dahinter scheine eine Strategie der Turboradikalisierung zu stehen, um innerparteiliche Debatten und Analysen über die Wahlverluste zu vermeiden. Diese Haltung könnte die polnische Rechte in einen antieuropäischen und antiwestlichen Radikalismus treiben. Platz für den Aufbau eines vernünftigen Konservatismus bleibe da nur noch wenig, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita.



Gazeta Wyborcza: Polexit-Strategie der PiS

Noch vor fünf Jahren habe PiS-Chef Kaczyński den Vorwurf, dass seine Partei einen Polexit anstrebe, vehement abgewiesen. Nun sei die Idee eines Polexits offiziell Teil der PiS-Politik geworden, schreibt indes der Kommentator der Gazeta Wyborcza, Bartosz Wieliński. Anlass dafür seien die Reformvorschläge des Europäischen Parlaments zu den EU-Verträgen. Wie der Publizist argumentiert, seien die angestrebten Reformen, die das Vetorecht einschränken, darauf ausgelegt, die Handlungsfähigkeit der EU in einem erweiterten Rahmen zu stärken und nicht die Souveränität der Mitgliedstaaten zu untergraben. Kaczyński vergesse, das die blinde Verteidigung des Veto-Rechts für Polen schon einmal mit dem Verlust der Unabhängigkeit geendet habe und stilisiere die EU fälschlicherweise als Bedrohung für Polen. Als die PiS an der Macht gewesen sei, habe sie eine schleichende Version des Polexits betrieben. Nun wolle sie offenbar offen gegen die EU kämpfen, so Wieliński in der Gazeta Wyborcza. 

Autor: Adam de Nisau