Deutsche Redaktion

Gewaltsame Änderungen im Verfassungsgericht?

14.11.2023 13:46
Immer wieder kehrt in den Pressekommentaren die Frage zurück, wie die neue parlamentarische Mehrheit ihre Versprechen zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit eigentlich erfüllen will. Während die liberale Presse von dem Dilemma berichtet, vor dem Oppositionsführer Tusk in Bezug auf dieses Thema steht, warnt die nationalkonservative Presse bereits vor verfassungswidrigen, vielleicht gar gewaltsamen Versuchen der neuen Mehrheit, Änderungen in der Justiz rückgängig zu machen. Und: Ex-Ministerpräsidentin Szydło sieht ihre Partei als Sieger der Parlamentswahl und verteidigt den vehementen Widerstand der Vereinigten Rechten gegen die EU-Reform. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Magdalena Biejat o wyroku TK ws. aborcji
Magdalena Biejat o wyroku TK ws. aborcjiLongfin Media / Shutterstock

Nach dem ersten Tag der ersten Sejmsitzung und der Wahl des Chefs von Polen 2050, Szymon Hołownia zum Sejmmarschall, berichten die liberalen Medien über einen ersten Schritt hin zur Machtübernahme durch die Koalition der Oppositionsparteien. Breit kommentiert werden sowohl die Liquidierung der Barrieren vor dem Sejm, als auch die Tatsache, dass bisher regierende PiS keinen Vize-Sejmmarschall haben wird, da sie auf der Kandidatur von Sejmmarschallin Elżbieta Witek bestand, die für die Opposition zu einem Symbol des Verfalls der parlamentarischen Standards geworden ist. Immer wieder kehrt aber auch die Frage zurück, wie die neue parlamentarische Mehrheit ihre Versprechen zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit eigentlich erfüllen will. 

Rzeczpospolita: Es ist schwer, Abkürzungen auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit zu nehmen

Denn inwieweit es tatsächlich möglich sein werde, das polnische Verfassungsgericht durch Beschlüsse zu reformieren, die keine allgemeingültige Gesetzeskraft besitzen, sei fraglich, schreibt in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita der Publizist Tomasz Pietryga. Ein solcher Schritt, so der Autor, würde zweifellos einen bedeutenden Erfolg für die Opposition darstellen. Allerdings sei ein solches Vorgehen auch mit erheblichen Risiken verbunden. Indem die Koalition versuche, auf diese Weise die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, könne sie sich dem Vorwurf aussetzen, selbst juristische Abkürzungen zu nehmen und so eine neue Phase des Konflikts um die Gerichte einleiten. Donald Tusk, so Pietryga, stehe vor einer schwierigen Entscheidung. Einerseits sei die Ankündigung, die PiS für ihre Verfassungsbrüche zur Rechenschaft zu ziehen, ein wesentliches Versprechen an die Wähler und das stärkste Band, das die Koalition zusammenhalte. Andererseits könnte das Warten auf einen Wechsel des Staatspräsidenten in zwei Jahren die begrenzte Macht der neuen Regierung offenlegen. Gleichzeitig würde auch der Rückgriff auf rechtliche Abkürzungen große Gefahren bergen. Die Schaffung eines gefährlichen Präzedenzfalls durch das Rechtfertigen von provisorischen Notgesetzen könne sich als Bumerang erweisen, wenn die PiS in vier Jahren die Wahlen gewinne und denselben Weg einschlage. Es wäre dann schwer, der Recht und Gerechtigkeit vorzuwerfen, unrechtmäßig zu handeln, so Tomasz Pietryga in der Rzeczpospolita. 

Gazeta Polska Codziennie: Gewaltsame Änderungen im Verfassungsgericht 

Auch in der nationalkonservativen Presse sorgt eben dieses Thema für große Emotionen. Jacek Lizinkiewicz spricht in seinem aktuellen Kommentar für die Gazeta Polska Codziennie zu den von der Opposition geplanten Beschlüssen von der Gefahr gewaltsamer, verfassungswidriger Änderungen im Verfassungsgericht. Wie Lizinkiewicz erinnert, wolle die Koalition rund um Donald Tusk mit Hilfe der Resolutionen einerseits das Urteil des Verfassungsgerichts vom Oktober 2020, das das Abtreibungsrecht verschärft, für nichtig erklären und andererseits drei Richter des Verfassungsgerichts abberufen, die anstelle der von der PO-PSL-Mehrheit gewählten Richter nominiert worden seien: Mariusz Muszyński, Justyn Piskorski und Jarosław Wyrembak. Zudem sollen auch Prof. Krystyna Pawłowicz und Stanisław Piotrowicz aus dem Verfassungsgericht abberufen werden, die wie Lizinkiewicz schreibt, in einem absolut korrekten Verfahren für eine neunjährige Amtszeit gewählt worden und daher laut Verfassung nicht abberufen werden können. 

Wie Lizinkiewicz zugibt, sei die juristische Situation im Falle der drei anderen Richter etwas anders. Diese würden von der Opposition als Ersatzrichter bezeichnet, da der Sejm im Jahr 2015 sie anstelle dreier von der PO-PSL-Mehrheit gewählten Richter ins Verfassungsgericht wählte. Die Wahl der drei PO-PSL-Richter sei durch eine Sejm-Resolution im Jahr 2015 aufgehoben worden. Gleichzeitig habe Präsident Andrzej Duda von ihnen keinen Amtseid entgegengenommen, sondern von den so genannten Doppelgängern, was ausschließlich in der Kompetenz des Präsidenten liege. Falls der neue Sejm dies durch eine Resolution umkehren wolle, werde er faktisch die Richter anerkennen, deren Ernennungs-Prozedur nicht vollständig abgeschlossen gewesen sei. “Eine solche Resolution wird nur den politischen Willen ausdrücken. Sie wird keine rechtliche Kraft haben. Im Grunde genommen ist unklar, was nach ihrer Annahme passieren müsste”, sagt Bartłomiej Wróblewski, Verfassungsexperte und PiS-Abgeordneter im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie.  “Die Resolutionen werden keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgen haben. Genau so, als ob der Sejm durch eine Resolution jemandes Ehe für ungültig erklären würde", habe dazu auch der Richter Mariusz Muszyński auf seinem Blog geschrieben. Es stelle sich auch die Frage, wie die Regierung die Resolution umsetzen wolle. Mit Gewalt?

Problematisch sei auch die geplante Abberufung von Richtern des Nationalen Justizrats (KRS), die letztes Jahr von der parlamentarischen Mehrheit gewählt worden seien. Um den Anschein der Legalität zu wahren, wäre dafür ein neues Gesetz über den Nationalen Justizrat erforderlich, das die Wahl der Mitglieder regelt. Dieses würde eine Zustimmung von Staatspräsident Duda erfordern, der gestern klar angekündigt habe, die Errungenschaften der letzten acht Jahre mit Hilfe des Vetorechts beschützen zu wollen. „Wenn ich finde, dass eine Lösung ernsthafte inhaltliche oder rechtliche Bedenken aufwirft, werde ich nicht zögern, mein präsidentielles Veto einzulegen oder die Gesetze an das Verfassungsgericht zu verweisen“, zitiert Jacek Lizinkiewicz den Staatspräsidenten in der Gazeta Polska Codziennie.

Gazeta Polska Codziennie: Der Kampf der Vereinigten Rechten um die Eindämmung der EU-Föderalisierung 

"Wir haben erneut die Wahlen gewonnen”, bekräftigt in einem Interview für Gazeta Polska Codziennie die Ex-Premierministerin und EU-Abgeordnete der PiS, Beata Szydło. Als größte Gruppierung, die die höchste Unterstützung erhalten habe, so die Politikerin, wolle die PiS auch eine Regierung bilden. “Wir haben ein Programm, wir haben das Vertrauen der Polen, wir bieten Zusammenarbeit an. Ob das möglich sein wird? Wir werden sehen. Es hängt von der Verantwortung der Oppositionspolitiker ab, die sich fragen müssen, ob sie ein positives Programm für Polen umsetzen und mit uns eine Koalition bilden wollen, oder ob sie Rache suchen und eine Regierung unter einem Politiker bilden wollen, dessen Partei zum dritten Mal in Folge die Wahlen verloren hat, aber um jeden Preis und für ihre eigenen partikularen Interessen die Macht übernehmen will," erklärt Szydło.

In dem Interview verteidigt die Politikerin auch die harte Position der Vereinigten Rechten in Bezug auf die Reformpläne der EU. Die für November geplante sei ein weiterer Schritt zur Durchführung von Verfassungsänderungen in der EU. Es sei ein Plan, der konsequent von der liberalen Linken Mehrheit umgesetzt werde, die unter dem Vorwand, den Herausforderungen, vor denen die EU steht, zu begegnen, versuche, die Gemeinschaft radikal zu verändern. Der Vorwand für die Änderungen sei die Erweiterung der EU um neue Mitgliedstaaten. Und hier müsse klar gesagt werden, dass die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, einschließlich der Ukraine und Moldawiens, keine Änderung der Verträge erfordert. Es müsse auch deutlich gesagt werden, dass Polen die Aufnahme dieser Staaten in die Gemeinschaft unterstützt.

Die vorgeschlagenen Änderungen, so Szydło, seien schlecht, da sie die Kompetenzen der Mitgliedstaaten erheblich einschränken. Sie würden auch einen erheblichen Einfluss auf das tägliche Leben jedes EU-Bürgers haben. Insbesondere das Vetorecht gebe den kleineren Mitgliedstaaten die Garantie, ihre Autonomie im Entscheidungsprozess zu bewahren. Eine weitere Frage betreffe die Übertragung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten an die Europäische Union in Bereichen wie Außenpolitik, Sicherheit, Steuern, Gesundheit oder Bildung. Die Rolle der nationalen Parlamente werde systematisch eingeschränkt, und die Regierungen müssen sich den Entscheidungen unterwerfen, die in Brüssel getroffen werden. Unsere Souveränität werde dadurch eingeschränkt, so Szydło.

Sie denke, jeder sollte sich fragen: “Ist es besser, wenn über das, was unsere Kinder lernen, Abgeordnete, Ratsmitglieder, Eltern in Polen entscheiden, oder soll der Lehrplan in Brüssel festgelegt werden, derselbe für alle Mitgliedstaaten? Wollen wir Einfluss darauf haben, welche Steuern wir zahlen, oder überlassen wir diese Entscheidung den Brüsseler Beamten?” Diese Fragen könne man beliebig fortsetzen. Wir, so die Politikerin weiter, sollten uns nicht von der Hysterie hinreißen lassen, die die gegenwärtige Opposition zu erzeugen versuche, dass, wenn wir diesen Änderungen nicht zustimmen, dies einen Polexit, die Marginalisierung Polens usw. bedeute. Das sei Unsinn. “Wir haben das Recht, über uns selbst zu entscheiden, nutzen wir es”, so Szydło.

Insbesondere gelte dies im Verteidigungsbereich, wo die NATO der einzige reelle Sicherheitsgarant sei, während die EU-Staaten ihre Armeen in den letzten Jahren konsequent entwaffnet hätten. "Die Eliten in Brüssel haben so viele Fehler gemacht, dass es schwer vorstellbar ist, dass sie in Zukunft eine Garantie für unsere Sicherheit sein können”, betont Szydło. Die meisten Mitgliedstaaten der EU seien in der NATO, und diejenigen, die noch nicht Mitglieder seien, würden dem Bündnis beitreten wollen. 

Geht es nach Szydło, sollte die EU auf Solidarität und Gleichheit basieren. Und das Vetorecht sei eine Garantie dafür. Dieses Instrument werde tatsächlich nur selten genutzt, und wie man sehe, störe es. Am häufigsten würden deutsche Politiker von der Notwendigkeit sprechen, das Veto abzuschaffen. Bundeskanzler Scholz habe darüber während seiner Rede im Europäischen Parlament gesprochen, ebenso wie EU-Kommissionschefin von der Leyen und Manfred Weber. Ihrer Meinung nach werde das Wegfallen der Vetomöglichkeit in der EU die Gemeinschaft nicht stärken, sondern sie noch mehr spalten. Sie könne sich nicht vorstellen, dass irgendeine Regierung zustimmen könnte, die Interessen ihres Landes den Interessen eines anderen unterzuordnen, so die ehemalige Ministerpräsidentin im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie.

Autor: Adam de Nisau