Deutsche Redaktion

"Neustart mit Deutschland?"

30.01.2024 13:13
Außenminister Sikorski reist heute nach Berlin. Kommt es nach dem Machtwechsel in Polen zu einem Durchbruch bei den schwierigsten bilateralen Themen? Die Meinungen der Kommentatoren sind geteilt. Und: Die Zeichen mehren sich, dass Ungarn seine Blockade gegenüber dem Hilfspaket für die Ukraine aufgeben könnte. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Szef MSZ: Niemcy są naszym sojusznikiem, ale są sprawy do załatwienia z przeszłości i na przyszłość i o tym będziemy rozmawiać.
Szef MSZ: Niemcy są naszym sojusznikiem, ale są sprawy do załatwienia z przeszłości i na przyszłość i o tym będziemy rozmawiać.Shutterstock/Tobias G. Sommer/ X/Sebastian Indra / MSZ

Dziennik/Gazeta Prawna: Neustart mit Deutschland

Nach seinem Besuch in Kiew reist der polnische Außenminister heute nach Berlin - in die zweite, aus polnischer Sicht strategisch wichtige Hauptstadt, berichtet Dziennik/Gazeta Prawna. Sikorskis heutiges Treffen mit seiner Amtskollegin Annalena Baerbock, lesen wir, gelte als Vorbereitung für künftige Gespräche zwischen Donald Tusk und Olaf Scholz. Polen sei, wie die Zeitung erinnert, in den letzten Wochen einen Schritt auf Deutschland zugegangen, indem es die Rückkehr zur Finanzierung des Deutschunterrichts für Vertreter der deutschen Minderheit in Aussicht gestellt hat. Jetzt erwarte Warschau eine Geste von deutscher Seite. Beispielsweise in der Frage der Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs, so das Blatt auf seiner Titelseite.

Über die polnischen Erwartungen hat das Blatt im Vorfeld der Visite mit dem Historiker vom Westinstitut und Experten für deutsche Außenpolitik, Prof. Dr. hab. Stanisław Żerko gesprochen. Polen hat eine Wiederherstellung der Finanzierung des Deutschunterrichts für die deutsche Minderheit in Polen in Aussicht gestellt. Eine ähnliche Geste von deutscher Seite, so der Experte, habe er bisher nicht wahrgenommen. Und ein besonders wichtiges Themenfeld für eine solche Geste sei aus polnischer Sicht die Frage der Entschädigungen für den Zweiten Weltkrieg. 

Worte des Verständnisses für die polnische Sensibilität in dieser Angelegenheit, so der Historiker, würden bisher vor allem von verschiedenen deutschen Intellektuellen fließen – z. B. von Prof. Stephan Lehnstaedt oder Prof. Karl Heinz Roth. Was aber immer noch fehle, seien offizielle Gesten. Im Allgemeinen, lesen wir weiter, hätten die deutschen Eliten viel über Versöhnung gesprochen, aber in der Frage der Entschädigung würden wir ein konsequentes „nein“ hören. Auch der neue deutsche Botschafter in Warschau habe wiederholt, dass die Reparationsfrage rechtlich abgeschlossen ist. Aus polnischer Sicht sei diese Angelegenheit jedoch in keiner Weise abgeschlossen, was unter anderem eine Resolution des Sejm aus dem Jahre 2022 bestätige, für die auch die heutige Regierungskoalition gestimmt habe.

Wirkliche Druckmittel, so der Historiker, habe Warschau in dieser Frage nicht. Alles hänge von der Einstellung der deutschen Seite ab. Davon, ob die Regierung von Olaf Scholz über die harte Haltung der bisherigen deutschen Kanzler hinausgehe, die bereits mit Bundeskanzler Konrad Adenauer begonnen habe. Berlins Haltung zu den Entschädigungen für die Verluste, die die Polen während des Zweiten Weltkriegs erlitten hätten, sollte das Barometer für die polnisch-deutschen Beziehungen sein und dafür, was als Versöhnung bezeichnet werde.

Strikt juristisch und formal gesehen, so der Historiker, möge die Sache vielleicht abgeschlossen sein. Aber die Angelegenheit habe auch eine ethische Dimension. Polen sei zerstört und  Millionen von Polen seien ermordet worden. Die Wiedergutmachung dafür sollte nicht nur symbolischer, sondern auch messbarer Natur sein. Vielleicht sollten es zum Beispiel deutsche Investitionen in das polnische Gesundheitswesen oder nicht nur in den Wiederaufbau des Sächsischen Palais, sondern auch in andere Kulturdenkmäler sein, die zerstört wurden. Eine gute Idee wäre auch die Zuweisung deutscher Mittel zur Stärkung der polnischen Armee, was auch für Deutschland von Vorteil wäre. Er hoffe nur, so Żerko, dass alles nicht mit der Finanzierung eines weiteren deutschen „Soft-Power“-Zentrums in Polen oder einer Stiftung zur Förderung der polnisch-deutschen Freundschaft endet. Heute würden immer noch etwa 45.000 polnische Opfer des Zweiten Weltkriegs leben. Die Zeit vergehe, viele dieser Menschen würden bald sterben. Er denke, wir können nicht warten und die polnische Regierung sollte vorübergehend die Verantwortung für die Zahlung dieser Entschädigungen übernehmen, ihre Renten und Pensionen erhöhen und dann diese Summe auf den Verhandlungstisch legen. So habe es zum Beispiel die italienische Regierung gemacht.

Die Tatsache, so der Historiker weiter, dass wir nach so vielen Jahren immer noch kein Denkmal für die polnischen Kriegsopfer in Berlin hätten, sei aus seiner Sicht absurd. In Ost-Berlin geben es ein Denkmal für den polnischen Soldaten und den deutschen Antifaschisten, das in den 1970er Jahren errichtet worden sei, um die polnisch-ostdeutsche Freundschaft zu symbolisieren. Vor einigen Jahren habe der Bundestag zwar beschlossen, ein Zentrum zur Erforschung der polnisch-deutschen Beziehungen zu gründen, aber dort sei nicht die Rede von einem Denkmal. Und jetzt bringe die deutsche Seite eine ganze Reihe von Argumenten vor, warum kein Denkmal errichtet werden sollte. Es würden seltsame Argumente angeführt, unter anderem, dass Denkmäler keine moderne Form der Erinnerung seien, dass es ein Ausdruck von Nationalismus sei, weil andere Nationen auch ihre eigenen Denkmäler fordern könnten, oder dass polnische Opfer bereits geehrt worden seien und dass auch die Polen dunkle Kapitel im Zweiten Weltkrieg haben – z.B. Jedwabne. 

Sicherlich, so Żerko, werde in Berlin in absehbarer Zeit also ein Zentrum entstehen, das eine Kreuzung zwischen einem Museum und einem Zentrum für polnisch-deutsche Debatten sei. Aber wir würden weiterhin auf ein Denkmal warten. Denn jetzt komme es zu solchen Situationen, dass der ehemalige polnische Botschafter Andrzej Przyłębski, um polnische Opfer zu ehren, Blumen am Denkmal der über Berlin abgeschossenen britischen Piloten niedergelegt habe, unter denen sich auch Polen befanden. 

Generell, so Żerko, würden sich die deutsch-polnischen Beziehungen in nächster Zeit vermutlich deutlich verbessern. Er sei auch zuversichtlich, dass Deutschland im Namen eines spektakulären Neubeginns einen bedeutenden Schritt auf Polen zugehen wird, um dieses für die Polen schmerzhafte Thema abzuschließen. Er hoffe, dass das Kapitel des Mangels an deutscher Sensibilität für das Gefühl der Kränkung, das bei einem großen Teil der polnischen Gesellschaft vorhanden sei, beendet werde, so der Historiker, Prof. Stanisław Żerko im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna.

Gazeta Polska Codziennie: Berlin bereitet, statt Reparationen, ein Säckchen Silberlinge vor

Auch die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie geht davon aus, dass sich in Bezug auf die Kriegsentschädigungen etwas bewegen könnte, stellt dies jedoch als zynisches Spiel Berlins vor. “Deutschland wollte nicht mit der Regierung der Vereinigten Rechten verhandeln, denn diese Regierung hätte sich nicht mit einer symbolischen Entschädigung zufrieden gegeben. Und eine solche wird vermutlich vorbereitet”, sagt im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie der Historiker und Deutschlandexperte Prof. Grzegorz Kucharczyk. Geht es nach Kucharczyk, hätten gut informierte Quellen in Berlin noch vor den Parlamentswahlen im Herbst zu verstehen gegeben, dass die Bundesregierung Verhandlungen zu dem Thema aufnehmen könnte, falls proeuropäische Kräfte die Macht in Polen übernehmen. Für diese Strategie gebe es zwei Gründe. Einerseits werde Berlin damit die Glaubwürdigkeit Tusks in Polen stärken, der dann sagen könne, dass er das Thema der Reparationen für Polen vorangebracht habe. Zweitens gehe es darum, dass die Höhe der Entschädigungen symbolisch ausfällt und sich nicht einmal dem Schatten der Summen nähere, von denen in dem von der vorherigen Regierung vorbereiteten Bericht zu den polnischen Kriegsverlusten die Rede sei, so Prof. Grzegorz Kucharczyk im Gespräch mit Gazeta Polska Codziennie.

Rzeczpospolita: Wichtiger Test für die EU

Am Donnerstag kommen die Staats- und Regierungschefs der EU erneut in Brüssel zusammen, um über das vierjährige Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro zu beraten. Beim letzten Treffen hatte sich Ungarn noch quergestellt. Wie wird es diesmal sein? Es sei ein wichtiger Test für die EU, betont in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Rzeczpospolita der Publizist Jędrzej Bielecki. Denn davon, ob und wie es den EU-Spitzenpolitikern gelinge, das Veto von Viktor Orban in Bezug auf das Hilfspaket zu brechen, werde die Zukunft der ganzen Gemeinschaft abhängen. Und tatsächlich, so der Autor, wolle die EU diesmal offenbar Druckmittel gegen die Ungarn einsetzen, die sie noch nie gegen ein Mitgliedsland eingesetzt habe. So habe die “Financial Times” zuletzt über einen Plan berichtet, die ungarische Wirtschaft notfalls durch die Auslösung eines Zusammenbruchs des Forint und die Provokation einer Flucht ausländischer Investoren zu untergraben. Erreicht werden solle dies durch die Erklärung der EU-Spitzenpolitiker, dass Budapest „nie wieder“ Hilfe aus dem Brüsseler Haushalt erhalten wird. 

Wie Bielecki erinnert, habe Polen, nach dem Sieg der demokratischen Opposition am 15. Oktober aufgehört, das Verfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 des EU-Vertrags zu blockieren. Es sei also nun wahrscheinlicher, dass die Ungarn nicht nur keine EU-Unterstützung mehr erhalten, sondern auch das Stimmrecht im EU-Rat verlieren. Das würde de facto einen Ausschluss Ungarns aus der EU bedeuten, auch wenn die Verträge dies formal nicht vorsehen würden. Orbán, so Bielecki, habe lange auf eine solche Lösung hingearbeitet. Das Land sei tief korrupt. Die Strukturen der regierenden Partei Fidesz hätten die Staatsinstitutionen infiltriert, Medienfreiheit existiere praktisch nicht mehr. Die EU, insbesondere Angela Merkel, habe eine solche Entwicklung jahrelang toleriert. Wenn dieser Situation heute jedoch kein Ende gesetzt werde, werde das europäische Projekt aufhören, eine Gemeinschaft zu sein, die auf Werten wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit basiere. Von Marine Le Pen bis Geert Wilders – viele Populisten würden das Schicksal Orbáns heute genau beobachten. Und wenn er diese Prüfung bestehe, würden sie seinem Beispiel folgen. Ungarn könnte zudem auch die europäische Unterstützung für die Ukraine sprengen und die Tore Europas weit für den russischen Imperialismus öffnen. All dies bedeute, dass es in Bezug auf die Ungarn-Krise nur zwei gute Auswege zu geben scheint. Der beste sei, Orbán zu einer Änderung seiner Haltung zu zwingen. Wenn dies jedoch nicht gelinge, bestehe die zweitbeste Lösung darin, das Land an den Rand der EU zu drängen. Ein Verbleib im jetzigen Zustand führe geradewegs zu einer Katastrophe, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita. 

In einem weiteren Artikel zu dem Thema in der heutigen Ausgabe des Blatts, macht die Publizistin Zuzanna Dąbrowska darauf aufmerksam, dass über ein solches Szenario in Brüssel nicht mehr nur diskutiert werde. Wie das Blatt im Gespräch mit mehreren EU-Diplomaten bestätigt habe, habe das Generalsekretariat des EU-Rats eine kurze Analyse der Schwachpunkte der ungarischen Wirtschaft vorbereitet, die bestätige, dass die Androhung eine Sperrung weiterer EU-Mittel für Ungarn ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde. 

Dziennik Gazeta Prawna: Ukraine versucht Konflikte mit Ungarn zu schlichten

Derweil sieht es danach aus, dass Ungarn und die Ukraine ihre Kontakte im Vorfeld des Gipfels intensivieren und versuchen, ihre Differenzen auszuräumen, beobachtet Michał Potocki in der heutigen Ausgabe des Wirtschaftsblatts Dziennik/Gazeta Prawna. So hätten sich gestern die Außenminister der beiden Staaten in Uschhorod getroffen. Noch vor zwei Monaten, erinnert Potocki, habe Ungarns Außenminister Szijjártó ein offizielles Treffen zwischen Orbán und Selenskyj ausgeschlossen. Gestern sei indes das offizielle Ziel der Gespräche, die Vereinbarung der Bedingungen für ein solches Treffen gewesen. Das sei eine ernsthafte Veränderung. Zusätzlich habe Ukraines Außenminister Kuleba am Freitag gesagt, dass die EU-Politiker sich vorläufig darauf geeinigt haben, der Ukraine 50 Milliarden Euro Hilfe zu gewähren. Das, so Potocki, würde bedeuten, dass Ungarn sein Veto vom 14. Dezember 2023 aufhebt. Diplomatische Quellen der ukrainischen „Jewropejskaja Prawda“ würden erklären, dass die Milderung der Haltung einerseits auf das Bewusstsein der völligen Isolation in dieser Angelegenheit zurückzuführen ist, und Orbán versuche, solche Situationen zu vermeiden. Andererseits spiele auch der Einfluss der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni eine Rolle, die Fidesz zwar ideologisch nahestehe, aber in Bezug auf die russische Aggression die Ukraine unterstütze. Fidesz, lesen wir, suche für die Zeit nach den Europawahlen im Juni nach einem Platz für sich auf der europäischen politischen Bühne. Orbán habe im Gespräch mit „Le Point“ erklärt, dass er erwägt, der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten beizutreten. Und in dieser Gruppe würden pro-ukrainische Politiker dominieren: Meloni, Polens Recht und Gerechtigkeit PiS, die Tschechische Bürgerdemokratische Partei und die Schwedischen Demokraten. Die Ungarn würden Zustimmung zur Hilfe für die Ukraine signaliseren, gleichzeitig jedoch betonen, dass dies, wenn es denn geschehe, ihre souveräne Entscheidung sein werde, und nicht das Ergebnis des Drucks der EU-Partner, so Michał Potocki in Dziennik/Gazeta Prawna. 

Autor: Adam de Nisau