Deutsche Redaktion

"Putin könnte die Wahlen auch ehrlich gewinnen. Aber er will mehr"

18.03.2024 12:24
Rusłan Szoszyn von der Rzeczpospolita erinnert daran, wie russische Regime historisch am häufigsten zusammengebrochen sind. Auch Putins Regime werde es so ergehen. Aber noch nicht jetzt, so der Autor. Und: Der unabhängige russische Politologe Igor Gretsky macht auf zwei Funktionen von Wahlen in Autokratien aufmerksam.
Niemcy: reakcje po wyborach w Rosji
Niemcy: reakcje po wyborach w RosjiPAP/EPA/HANNIBAL HANSCHKE

Rzeczpospolita: Putin wird Russland noch lange regieren

In der konservativ-liberalen Rzeczpospolita sucht Autor Ruslan Schoschin nach den Gründen für den erneuten Sieg Wladimir Putins in den Präsidentschaftswahlen. Seine Diagnose: Satelliten im Weltraum, ein Rover auf dem Mars, Wasserstoffautos, künstliche Intelligenz. Die Welt sei im Wandel und all das sei wichtig, aber nicht in Russland. Seit Jahrhunderten regiere dort nämlich unerschütterlich derjenige, der die Macht halte.

Den Russen, lesen wir, werde von klein auf beigebracht, dass das Land ihr Opfer, ihre Arbeit und vor allem ihren Gehorsam brauche. Mit Politik dürfe man sich nicht befassen. Sie sei ein verbotenes Thema. Russen müssten nur wissen, dass sie kleine Leute sind, von denen nichts abhängt”. Dies sei der von der Grundschule bis hin zu den Universitäten eingeprägte Wegweiser des russischen Lebens. Vom Herrschen sei der Machthaber im Kreml. So war es, ist es und werde es auch bleiben, schreibt Schoschin.

Die Regime in Russland, so der Autor weiter, seien immer mit dem russischen Staat zusammengebrochen. Durch wirtschaftliche und politische Krisen und erschöpfende Kriege. Die Dynastie der Rurikiden habe begonnen, nach dem Tod eines der brutalsten Herrscher in der Geschichte des Landes, Iwan IV. des Schrecklichen, zu zerfallen. Diese Herrschaft habe mit der Niederlage des Staates und einer großen Zeit der Wirren (Smuta) geendet. Die Herrschaft der Romanow-Dynastie wiederum habe mit einer blutigen Revolution geendet, einem Bürgerkrieg und dem Verlust eines Großteils der einst eroberten Gebiete. Auch der jahrzehntelange Kommunismus in Russland, erinnert Schoschin, sollte ewig dauern. 

Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei für viele überraschend gekommen und habe für Russland im Chaos geendet. Weitere Gebiete hätten sich abgespaltet, viele Völker seien aus dem Reich geflohen. Es sei eine wirtschaftliche und soziale Krise gefolgt. Die Erosion des politischen Systems sei vorangeschritten und das Land sei von langwierigen und erschöpfenden Kriegen heimgesucht worden. Dies seien die Hauptursachen, die alle früheren Regime in Russland begraben hätten. Der Autor glaubt deshalb, dass es auch diesmal wahrscheinlich so enden werde. Aber noch nicht jetzt.

Nach der Aggression gegen die Ukraine hätten viele westliche Institutionen und Kommentatoren einen schnellen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft prophezeit. Sie sollte für ein bis zwei Jahre Krieg ausreichen. Inzwischen dauere der Krieg schon drei Jahre. Putin habe immer noch Geld, um den Staat aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Raketen zu produzieren. Viele dieser Raketen würden immer noch westliche Elektronik enthalten. Es scheine, Putin habe gelernt, Sanktionen geschickt zu umgehen und mehr als nur Fernseher, Smartphones und Waschmaschinen einzuschleusen. Er könne es sich erlauben, lesen wir. Immer noch würden Milliarden von Dollar aus Ölexporten nach China und Indien nach Moskau fließen.

Auch das von Putin über Jahrzehnte geschaffene politische System in Russland sei nicht implodiert, fährt der Autor fort. Die heutigen russischen Quasi-Fürsten würden schweigen. Vor der Aggression gegen die Ukraine habe es in Russland mehr als 100 Milliardäre gegeben. Wie viele von ihnen hätten rebelliert, Putins Aggression verurteilt oder die ukrainische Armee unterstützt? Schließlich würden viele von ihnen schon seit Jahren nicht mehr in Russland leben. Kein einziger russischer Minister, Parlamentarier oder gar hoher Beamter habe sich in den über zwei Jahren des Krieges erhoben. Lieben sie Putin so sehr? Haben sie Angst vor der Rache des Kremls? Oder sehen sie vielleicht noch gar keine Anzeichen für ein Scheitern des Regimes, fragt Ruslan Schoschin in der Rzeczpospolita. 

Dziennik: Putin könnte die Wahlen auch ehrlich gewinnen. Aber er will mehr

Wahlimitationen seien ein typisches Merkmal vieler Diktaturen, und Russland sei keine Ausnahme, schreibt der unabhängige russische Politologe der estnischen Denkfabrik ICDS, Igor Gretsky, im Portal dziennik.pl.  Sie, so der Autor, sollen zwei Funktionen erfüllen. Erstens sollen sie die Macht legitimieren. Zweitens sollen sie die Funktionalität ihrer Struktur testen und die Effektivität ihres Apparats aufrechterhalten.

Russischen Soziologen zufolge liege die Unterstützung für Putin sowieso bei rund 80 Prozent. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine habe sich sogar die öffentliche Akzeptanz aller russischen Machtorgane deutlich verbessert. Die Unterstützung für das Parlament, die Gouverneure und die Regierung habe den höchsten Stand in der russischen Geschichte erreicht, so der Politikwissenschaftler.

Putins Popularität allein auf Propaganda zurückzuführen, wäre falsch. Russlands Massenmedien seien schließlich nicht allmächtig. Während der Covid-19-Pandemie zum Beispiel habe die gesamte russische Propagandamaschine die Bürger zum Impfen aufgerufen. Diese Botschaft sei jedoch weitgehend ignoriert worden. Viele Russen hätten an Verschwörungstheorien geglaubt.

Geht es nach dem Politologen, könnte Putin die Wahlen somit auch fair gewinnen, ohne seine Gegenkandidaten aus dem Rennen zu nehmen. Allerdings sei es für jeden autoritären Herrscher sehr wichtig, nicht nur seinen Sieg bei den Wahlen zu sichern, sondern auch, dass das Wahlergebnis keine Hoffnung auf ein anderes Szenario zulasse, so der Experte.

Die Rolle der anderen Teilnehmer des russischen Wahlkampfes sehe Gretsky darin, einen Pluralismus und Wettbewerb zu simulieren. Alle Gegner Putins hätten nämlich von Beginn des Wahlkampfs an erklärt, sie würden nicht auf den Sieg abzielen. Damit hätten sie dem Diktator vorzeitig den Erfolg zugestanden. Auch die Fernsehdebatten hätten sich als die langweiligsten in der postsowjetischen Geschichte erwiesen. In Abwesenheit Putins hätten alle drei Figuranten lediglich vorgefertigte Texte abgelesen. Sie hätten keinen Hauch von Kritik an dem Diktator geäußert, so der Experte in Dziennik.

Autor: Piotr Siemiński