Gazeta Wyborcza: Russischer Investigativjournalist - “Die Zeit arbeitet gegen den Kreml”
„Russland 2021 und Russland nach dem Überfall auf die Ukraine seien zwei völlig verschiedene Länder“, sagt Roman Dobrochotow, Chefredakteur des unabhängigen Portals The Insider und Mitautor der Recherchen zu Skripal, MH17 und der Vergiftung Alexej Nawalnyjs im Interview mit der linksliberalen Gazeta Wyborcza.
 
Bis kurz vor dem Krieg, so der Journalist, hätten seine Reporter noch in Moskau gearbeitet, in einem Coworking zehn Gehminuten vom Kreml; man habe trotz Mainstream-Zensur in unabhängigen Medien frei publiziert. Es habe zwar keine freien Wahlen gegeben, aber dafür viele Aktivisten, die sich dem Kreml offen widersetzt hätten. Seit 2022 gleiche das Klima indes dem Spätstalinismus: strafrechtliche Verfahren gegen Tausende Unbeteiligte, Angst, den eigenen Namen selbst unter einem simplen „Like“ zu zeigen. Russland habe sich zu einem Land entwickelt, in dem Konformität zur Überlebensstrategie geworden sei. Putin indes, sei zwar ein Pragmatiker, der nicht gerne belogen werde, trotzdem aber von seinem Umfeld in einer Echokammer gehalten werde, in der Widerspruch systematisch ausgeblendet und gewünschte Narrative verstärkt werden. Er selbst habe aus Russland in die Ukraine flüchten müssen, wo russische Dienste mit Hilfe der ukrainischen Mafia versucht hätten, ihn zu entführen. Er habe sich von den ukrainischen Diensten sagen lassen, dass die Auftraggeber ukrainischen Banditen 50 Tausend Dollar für die Hilfe bei der Entführung angeboten haben. 
 
Im Machtzentrum des heutigen Russlands sieht Dobrochotow zwei Lager. Zur „Partei des Krieges“ zählten Putin, Teile des Militärs und die engsten Vertrauten aus der Kooperative Osero. Parallel existiere eine „Partei des Friedens“ – und zwar auch dort, wo man sie am wenigsten vermuten würde: auch unter einflussreichen Silowiki außerhalb des FSB, teils mit direktem Zugang zu Putin. Selbst in Osero gebe es Befürworter eines raschen Endes der Invasion. Weniger überraschend: Auch Oligarchen würden wegen der Sanktionen auf Deeskalation drängen. 
Geht es nach Dobrochotow habe vor und kurz nach dem Treffen Putins mit Donald Trump in Alaska in den Eliten der Eindruck geherrscht, echte Friedensgespräche seien möglich. Intern seien damals „kompromissfähige“ Angebote kursiert – etwa eine befristete Pachtlösung für die Krim mit Rückgabe in 50 Jahren sowie ein teilweiser Verzicht auf Ansprüche in Teilen des Donbass. Diese Vorschläge hätten, so die Hoffung der Befürworter, sowohl Selenskyj als auch den Westen nicht völlig überfordert. Blockiert worden sei der Kurs dennoch durch Putins feste Überzeugung, ein baldiger Sieg und der Zerfall Europas stünden bevor.
Die Wahrheit sei aber eine andere. Die Kriegsökonomie nähere sich einer harten Wand, argumentiert der Journalist. Nach seinen Informationen aus Sicherheitskreisen und Einschätzungen von Ökonomen würden die Mittel für den Krieg in etwa einem Jahr zur Neige gehen. Defizite und ein rückläufiges BIP seien bereits sichtbar. Danach blieben nur drastische Kürzungen, neue Schulden oder „Finanzpyramiden“ – Wege, die in eine tiefe Krise führten. Zwar könne der Staat auch unter Verarmung weiter Krieg führen, doch politisch werde es riskant, sobald breite Schichten sich keine Autos oder Smartphones mehr leisten könnten und die Inflation zweistellige Raten erreiche. In 25 Jahren Herrschaft habe Putin keinen längeren, spürbaren Einkommensrückgang erlebt; das mache die Lage für ihn heikel, so der Gesprächspartner der Gazeta Wyborcza.
Die Frage nach einem möglichen Machtwechsel in Russland beantwortet Dobrochotow ambivalent. Verschwörungen seien wegen Putins Kontrolle über die Elitenkommunikation schwieriger als in Zaren- oder Sowjetzeiten. Gleichzeitig sähen manche seiner FSB-Quellen „technisch“ kein Hindernis, den Präsidenten zu entfernen, sollte die Spitze der Sicherheitsapparate das beschließen. 
Diese Akteure seien allerdings weder Liberale noch Demokraten. Ein solcher Schritt führe realistischerweise nicht zu einer sofortigen Demokratisierung, sondern eher zu einem kollektiven Führungsarrangement, das durch ein begrenztes „Tauwetter“ flankiert werde – punktuelle Freilassungen, selektive Lockerungen, vorsichtige Öffnung nach Westen mit der Hoffnung auf Sanktionsmilderung, so der Journalist.
Als zweites Szenario skizziere er eine Dynamik „von unten“, ausgelöst durch einen ökonomischen Schock: Schließe etwa ein Rüstungsbetrieb, stünden plötzlich Tausende ohne Einkommen da. Lokale Proteste könnten sich rasch auf weitere Städte übertragen, während Polizei und Nationalgarde an Grenzen stießen. In einer solchen Lage sei nicht auszuschließen, dass einzelne Einheiten den Schießbefehl verweigerten – eine Kettenreaktion mit offenem Ausgang, die Dobrochotow mit der Logik der Februarrevolution von 1917 vergleicht. Der Aufstand Prigoschins habe bereits gezeigt, dass weder Bevölkerung noch Sicherheitsapparate in der Stunde X bereit seien, Putin aktiv zu verteidigen. Kadyrows Leute seien im Stau stecken geblieben, Generäle hätten sich als „nicht verfügbar“ gemeldet.
 
Atomare Drohgebärden – aktuell um die Rakete „Burewestnik“ – hätten im Ukrainekrieg wenig operative Relevanz. Putin habe seit Beginn der Invasion mit Atomwaffen gedroht und der Westen habe die Drohkulisse inzwischen richtig als Bluff eingeordnet. Putin, so der Journalist, habe nicht damit gerechnet, dass der Westen die Ukraine in einem solchen Umfang stützen wird. Auch in Bezug auf Trump habe sich Moskau verrechnt. Trump agiere in manchen Fragen härter und direkter als Biden, vom Druck auf Drittstaaten bis zu Sanktionen gegen große Energieakteure.
Er teile keinesfalls die Ansicht, die russische Zivilgesellschaft sei tot. Der materielle Aufstieg habe Proteste zwar lange gedämpft. Jetzt könne dieselbe Bevölkerung jedoch bei einem potentiellen Lohnstopp, Hyperinflation oder Massenentlassungen sehr schnell umschwenken. Zivilgesellschaft existiere trotz Repression, Meinungen seien opportunistisch und damit beweglich. Darum arbeite die Zeit gegen den Kreml, so Roman Dobrochotow im Gespräch mit der linksliberalen „Gazeta Wyborcza“.
Rzeczpospolita: Wladimir Putin wird dieses Wettrüsten verlieren
Die Ankündigung Donald Trumps, US-Atomtests wiederaufzunehmen, markiere eine neue Eskalationsstufe eines „zweiten Kalten Krieges“ – und setze Wladimir Putin auf einen Kurs, den die Sowjetunion schon einmal verloren habe, sagt Gen. Stanisław Koziej, der frühere Chef des polnischen Sicherheitsbüros BBN und Ex-Vizeverteidigungsminister im Gespräch mit der konservativ-liberalen Rzeczpospolita.
Koziej ordnet Trumps Schritt als nahezu unvermeidliche Antwort auf Moskaus ständigen Nuklearschmäh ein: Russland betreibe seit Jahren nuklearen Druck, vor allem mit taktischen Waffen, wo es gegenüber den USA eine deutliche Überlegenheit habe. Während die strategische Ebene durch Reduktionen und Parität gebremst sei, liege der eigentliche Risikohebel heute tiefer: zwischen der täglichen politischen Konfrontation und dem Tabu der wechselseitigen Vernichtung klafften inzwischen zwei zusätzliche Stufen, die es im ersten Kalten Krieg so nicht gegeben habe – hybride Kriegsführung und die Androhung taktischer Nuklearwaffen. Genau dort sehe Moskau seinen Vorteil, gestützt auf die Doktrin der „nuklearen Deeskalation“, nach der Russland im Falle eines konventionellen Rückschlags taktische Nuklearwaffen einsetzen würde, um den Gegner zu Verhandlungen zu zwingen, so der General.
 
Vor diesem Hintergrund erscheine Trumps Ankündigung als Aufnahme des von Putin hingeworfenen Fehde-Handschuhs: eine Symmetrisierung der Drohkulisse, die Putins bislang ungebremste Nuklearrhetorik einhegen und ihn – zumindest politisch – „abkühlen“ könne. Zugleich interpretiere Koziej den Schritt als Signal an Peking: Die USA wollten China in einen erneuerten Abrüstungsrahmen ziehen, und die Aussicht auf einen beschleunigten Wettlauf könne Pekings Rolle als dämpfender Faktor gegenüber Moskau stärken. 
Russland befinde sich „da, wo einst die UdSSR“: Ein umfassender Rüstungswettlauf – zumal unter technologischer und ökonomischer Unterlegenheit – werde absehbar zu Russlands Nachteil enden. Moskau präsentiere zwar Systeme wie „Burewestnik“ (nuklear angetriebener Marschflugkörper) und „Poseidon“ (nukleare Supertorpedo), doch seien dies technologisch heikle Projekte mit unsicherem Reifegrad; militärisch relevanter seien verfügbare Träger wie Iskander oder „Oreschnik“. 
Koziej skizziert zwei Pfade für die nähere Zukunft. Erstens ein „dämpfendes“ Szenario: Trumps Vorstoß könne Putin bremsen und eine offene Eskalationsspirale verhindern. Zweitens ein Eskalationspfad, in dem die USA und Russland neue Nuklearsysteme vorantreiben, bestehende Verträge weiter erodieren und ein Krisenmoment vom Typ „Kuba 1962“ drohe – zumal Russland die Stationierung von Trägersystemen mittlerer Reichweite in Lateinamerika erwägen könnte. In beiden Fällen bleibe zentral, die russische Deeskalationsdoktrin zu neutralisieren, so Koziej.
Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklung der Situation sei die Ukraine: Ein russischer Sieg würde den Nuklearschmäh nachträglich legitimieren und die europäische Sicherheitsordnung erschüttern. Daher müsse die Unterstützung Kiews fortgesetzt und Russlands Angriffsfähigkeit geschwächt werden. Parallel solle die NATO ihre nukleare Abschreckung an der taktischen Schwelle anpassen: Ausweitung des Nuclear-Sharing-Rahmens, zusätzliche US-Systeme in Europa als Pendant zu Russlands Iskandern, technische Befähigung der F-35-Flotten in der Ostflanke zur nuklearen Rolle – all dies, um Moskau zu zeigen, dass taktischer Nukleardruck nicht wirke. Ziel sei nicht Eskalation, sondern Glaubwürdigkeit, die dem Erpressungsinstrument seinen Reiz nehme, so der General in der konservativ-liberalen „Rzeczpospolita“.
Autor: Adam de Nisau