Deutsche Redaktion

Zwei Jahre Regierungskoalition: Der Trump-Effekt und das Ende liberaler Illusionen

15.10.2025 13:58
Zwei Jahre nach dem Wahlsieg der demokratischen Koalition vom 15. Oktober 2023 ziehen die polnischen Zeitungen eine ernüchternde Bilanz. Wie konnte aus dem Enthusiasmus der elf Millionen Wähler eine solche Enttäuschung werden? Und welche Chancen hat die Koalition noch, die Parlamentswahlen 2027 zu gewinnen? Mehr dazu in der Presseschau.
Premier Donald Tusk
Premier Donald TuskFilip Naumienko/REPORTER

RZECZPOSPOLITA: Der Trump-Effekt und das Ende liberaler Illusionen 

Die konservativ-liberale Rzeczpospolita präsentiert eine grundsätzliche Analyse des Wandels, den Polen und die Welt in den letzten zwei Jahren durchgemacht hätten. Chefredakteur Michał Szułdrzyński argumentiert, dass zwischen dem 15. Oktober 2023 und heute „eine ganze Epoche vergangen" sei -- oder vielmehr: eine Epoche sei zu Ende gegangen, „bevor sie richtig beginnen konnte".

Der Sieg der Koalition aus PO, Linken, Polen 2050 und PSL habe den Sieg der Hoffnung bedeuten sollen, dass sich die alte liberal-demokratische Ordnung noch retten lasse. Die Rückkehr Donald Tusks nach Polen hätte den Glauben wiederherstellen sollen, dass das liberale Lager in der Lage sei, Einfluss auf die Realität zurückzugewinnen. Doch wie der Autor betont, habe sich schnell gezeigt: „Ja, die Trends ändern sich, aber nicht so, wie es sich die Liberalen wünschen würden."

Der Paradox: Erst nachdem die PiS gezwungen worden sei, die Macht abzugeben, habe die Rechte ihre Hegemonie im Internet aufgebaut. Die populärste Nachrichtensendung sei heute die des nationalkonservativen TV-Senders Republika, der beliebteste Fernsehkanal auf YouTube sei der Kanal “Zero”. Die Rechte dominiere die meisten Experten-Kanäle und Podcasts. Eine aktuelle CBOS-Umfrage zum Vertrauen in Politiker zeige niemanden an der Spitze, der nicht mit der Rechten assoziiert werde: Karol Nawrocki führe, gefolgt von PSL-Chef Władysław Kosiniak-Kamysz und Außenminister Radosław Sikorski ex aequo, dann kämen die Politiker der Konföderation Krzysztof Bosak und Sławomir Mentzen.

Der Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen im Juni habe sich in überwältigender Mehrheit um Themen gedreht, die für die Rechte wichtig seien: Kampf gegen illegale Migration, Einschränkung der Rechte ukrainischer Flüchtlinge, Grenzschutz, militärische Sicherheit im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten. „Liberalismus ist heute nicht in Mode. Weder in Polen noch in der Welt", konstatiert Szułdrzyński. Donald Trump habe mit seinem überwältigenden Wahlsieg nicht nur über die „Woke"-Linke triumphiert, sondern auch über die liberale Weltordnung. Und wenn man das größte Problem Tusks und der Koalition vom 15. Oktober benennen müsse, so sei es die Krise im Management der Hoffnung. Am 15. Oktober habe eine Welle des Enthusiasmus von über elf Millionen Polen das Land überflutet. „Wo ist dieser Enthusiasmus von vor zwei Jahren geblieben?", fragt der Autor. Wenn Tusk nicht zu den Wurzeln jenes Enthusiasmus zurückkehre und die Quellen seiner Hoffnung nicht wiederfinde, werde Polen „in zwei Jahren erneut in den anti-liberalen Strom fallen", warnt Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. 

GAZETA WYBORCZA: Parteilicher Egoismus als Todsünde 

Die linksliberale Gazeta Wyborcza bringt ein ausführliches Interview mit Prof. Tomasz Nałęcz, das ebenfalls eine schonungslose Abrechnung mit der Regierungskoalition darstellt. Der Historiker und Politiker beginnt mit einer bitteren Feststellung: „Es gibt nichts Schlimmeres in der Politik, als Hoffnung zu enttäuschen. Heute, zur Halbzeit, befinden wir uns in einer Situation, in der sich ein erheblicher Teil der Menschen, die für die demokratische Koalition gestimmt haben, sehr enttäuscht oder sogar betrogen fühlt."

Nałęcz räumt ein, dass die Situation außerordentlich schwierig gewesen sei. Die PiS habe viele Blockaden hinterlassen, vor allem einen feindseligen Präsidenten, der sich vollständig mit der PiS identifiziert habe. Präsident Duda habe „ohne das geringste Zögern die Atomwaffe verwendet, über die dieses Amt verfügt" -- sein Veto. Dennoch, so der Professor, sei dem Tusk-Kabinett vieles gelungen: die Freigabe enormer Mittel aus dem Nationalen Wiederaufbauplan KPO, die Rückkehr zum Wirtschaftswachstum, die Senkung der Inflation auf drei Prozent, das Omageld, die Witwenrente, die Finanzierung der In-vitro-Befruchtung.

Das größte Verhängnis dieser Koalition sei jedoch der parteiliche Egoismus, der bewirke, dass die die Regierung bildenden Subjekte mehr um die Interessen ihres Hinterlandes und ihrer Politiker als um das Interesse des Ganzen bemüht seien. Die größte Raubgier demonstrierten die kleineren Partner, aber auch die dominierende Bürgerkoalition sei nicht ohne Schuld. Die Präsidentschaftskampagne sei „eine der niederdrückendsten" gewesen, die Nałęcz seit 1990 beobachtet habe. In der ersten Runde hätten die Koalitionsparteien gleichsam vergessen, dass sie gegen den PiS-Kandidaten antreten. Für ihn sei dies der Hauptgrund für die Niederlage Rafał Trzaskowskis gewesen.

Besonders kritisch äußert sich Nałęcz zur aktuellen Situation um Szymon Hołownia und Polen 2050. Die Partei habe 30 Abgeordnete, ohne die es keine Regierungsmehrheit gebe. Wenn Hołownia fehle, könne sich Polen 2050 auflösen, und die Regierung verliere ihre stabile Mehrheit. „Inspirierte Sezessionen, imperiale Eroberungen und Plünderungen sind die Methode von Autokraten, aber nicht von demokratischen Parteien", warnt der Professor. Trotz aller Kritik an Tusk bleibe Nałęcz überzeugt: Ohne Donald Tusk werde die Koalition vom 15. Oktober „wie ein Fass ohne Reifen zerfallen". Er sei der einzige Anführer, der in der Lage sei, das Lager der Demokraten zusammenzuhalten und noch Energie aus ihm herauszukitzeln, die es erlaube, die Parlamentswahlen 2027 zu gewinnen, so Prof. Tomasz Nałęcz im Gespräch mit der Gazeta Wyborcza. 

DO RZECZY: Tusk als „Dinosaurier" – Flucht aus Polen möglich 

Das konservative Magazin Do Rzeczy präsentiert eine noch düsterere Prognose und zitiert Prof. Antoni Dudek von der UKSW. Dieser habe im Gespräch mit Wirtualna Polska Donald Tusk als „Dinosaurier" der polnischen Politik bezeichnet, durch dessen Prisma die gesamte Regierung bewertet werde. Die Niederlage Trzaskowskis sei in großem Maße Tusks Schuld. „Es geht nicht nur um einige öffentliche Äußerungen, sondern auch um die Abneigung, Trzaskowski zum ‚Gesicht' von Projekten wie der erwähnten Deregulierung zu machen", erklärte Dudek.

Der Politologe weist darauf hin, dass Tusk nicht gewollt habe, dass sich die Koalitionsführer regelmäßig treffen, da er befürchtet habe, es könne eine Art „Superregierung" entstehen. Szymon Hołownia habe als Sejm-Marschall das stärkste Mandat gehabt, Tusk dazu zu „zwingen", und einen riesigen Fehler begangen, dies nicht zu tun. „Die Anführer der Koalitionsparteien haben Tusk nicht zur Rechenschaft gezogen, und sie hätten dies gleich zu Beginn der Regierung tun sollen, als die Koalitionsvereinbarung unterzeichnet wurde", kritisiert der Experte.

Die Konsequenzen dieser Situation könnten sich am Premier selbst rächen. „In zwei Jahren könnte Tusk der größte Verlierer sein", prognostiziert Dudek. Und wenn die PiS an die Macht komme, schließe er nicht aus, dass Tusk Polen wird verlassen müssen, um der Verhaftung zu entgehen, zitiert Do Rzeczy Prof. Antoni Dudek.


Autor: Adam de Nisau


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