Deutsche Redaktion

„Weder US- noch EU-Plan werden Frieden bringen"

25.11.2025 13:31
Ist sowohl der amerikanische Friedensvorschlag als auch der europäische Gegenvorschlag zum Scheitern verurteilt? Wie bereitet sich Estland auf einen möglichen russischen Angriff vor – und wie lange könnte das kleine Land ohne NATO-Hilfe überleben? Außerdem: Wie Elon Musks neue X-Funktion zur Standortanzeige polnische Trolle aber auch Patrioten entlarvt. Mehr dazu in der Presseschau.
Wołodymyr Zełenski
Wołodymyr ZełenskiOZAN KOSE/AFP/East News

RZECZPOSPOLITA: „Weder US- noch EU-Plan werden Frieden bringen"

Die bisher präsentierten Ideen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine - sowohl der Plan der USA, als auch der europäische Gegenvorschlag - seien unrealistisch, schreibt Rusłan Szoszyn in der konservativ-liberalen Rzeczpospolita. Alle Verhandlungsparteien sollten auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und von vorne beginnen.

Der ursprünglich von den USA präsentierte 28-Punkte-Plan habe wie eine „weihnachtliche Wunschliste Wladimir Putins" ausgesehen, so Szoszyn. Die Annahme derart kontroverser Vorschläge – darunter der Rückzug ukrainischer Truppen aus dem Donbass, der Verzicht auf NATO-Bestrebungen oder die Wiedereinführung des Russischen als zweite Amtssprache – hätte in Kiew einen Aufstand ausgelöst, der „jede ukrainische Regierung innerhalb von 24 Stunden hinweggefegt" hätte. Das besonders verhasste Wort unter Ukrainern sei zrada (Verrat), das durch Wiktor Janukowytsch bereits einmal die ukrainische Staatlichkeit infrage gestellt habe.



Großbritannien, Frankreich und Deutschland seien Kiew zu Hilfe gekommen und hätten Trumps Vorschläge korrigiert, indem sie alle „heiklen" Punkte geändert oder gestrichen hätten. In der Folge sei jedoch ein neuer Plan entstanden, dem Putin unter keinen Umständen zustimmen werde – schon allein deshalb, weil die europäische Variante keine vollständige Amnestie für Kriegsteilnehmer nach Kriegsende mehr vorsehe. Der russische Diktator möge zwar ein Fantast sein, aber er liebe das Leben. Er werde seinen Generälen und Geheimdienstchefs sicher nicht sagen, dass er ein Abkommen unterzeichne, das ihnen keine Straffreiheit für ihre Verbrechen garantiere.

Putin sei es offenbar gelungen, Trump davon zu überzeugen, den Krieg in der Ukraine im Rahmen einer umfassenderen Vereinbarung zu beenden, die nicht nur die europäische Ordnung für die kommenden Jahrzehnte festlege, sondern auch die Architektur der künftigen russisch-amerikanischen Beziehungen bestimme. Das Zusammenwerfen all dieser widersprüchlichen Themen in einen Topf verheiße laut Szoszyn kein schnelles Ende des Konflikts – ganz im Gegenteil. Der Kreml spiele auf Zeit und hoffe, dass seine Streitkräfte die Ukraine früher oder später „in die Knie zwingen" würden.

Wenn es Moskau tatsächlich um eine Beendigung des Konflikts ginge, würde sich der russische Diktator morgen mit Selenskyj treffen und beispielsweise eine Liste „neutraler" Länder vereinbaren, die an einer Friedensmission teilnehmen könnten. Jede Seite würde ihre Armee um eine gewisse Distanz zurückziehen, um eine entsprechende Pufferzone zu schaffen. Dann stünde einer Friedensmission unter UN-Mandat nichts mehr im Wege. Der Rest – einschließlich der Territorialfragen – würde nach Kriegsende besprochen, möglicherweise bereits von den Nachfolgern Putins und Selenskyjs. All dies wäre jedoch nur möglich, wenn sich der russische Diktator mit der Zukunft eines souveränen ukrainischen Staates abfinden und erkennen würde, dass der russisch-ukrainische Krieg immer mehr dem Winterkrieg der UdSSR gegen Finnland ähnele, so Rusłan Szoszyn in der Rzeczpospolita. 

GAZETA WYBORCZA: „Wenn die Ukraine fällt, ist Estland das nächste Ziel" 

Die linksliberale Gazeta Wyborcza veröffentlicht ein ausführliches Interview mit Dr. Aleksander Olech, Leiter der internationalen Zusammenarbeit bei Defence24 und Dozent am Baltic Defence College. Die Esten spürten den russischen Druck jeden Tag, erklärt der Experte. Ohne NATO werde das Land nicht lange überleben.

Warum Estland im Visier Putins stehe? Die geografische Nähe zu Russland sei entscheidend, so Olech. Moskau habe die baltischen Staaten schon immer als sein Eigentum betrachtet. Estland sei klein und militärisch schwach – leicht zu besetzen. Deshalb alarmiere Präsident Alar Karis Europa und die NATO wie kaum ein anderer. Die ehemalige Premierministerin Kaia Kallas, heute EU-Außenbeauftragte, sei das Gesicht dieses Kampfes in Europa. Die Esten wüssten aus ihrer Geschichte – 1940 sowjetisch annektiert, erst 1991 unabhängig –, wie viel Schaden Russland über Generationen anrichten könne. „Sie wissen, dass sie die Geografie nicht ändern können", so Olech.

In Sachen Sicherheit sprächen Politiker und Gesellschaft mit einer Stimme – das sei die „goldene Regel" Estlands. Das Bündnis mit Finnland und Schweden, den neuen NATO-Mitgliedern, stehe im Vordergrund. Diese Themen seien dem innenpolitischen Streit entzogen. Das Ziel sei klar: Estland müsse auf jede Bedrohung aus Russland vorbereitet sein. Täglich werde das Land durch russische GPS-Störungen lahmgelegt, der Flugverkehr zwischen Helsinki und Tartu werde zur Herausforderung.




Zur NATO-Präsenz: In der Militärbasis Tapa sei die Kampfgruppe Enhanced Forward Presence mit etwa 2.000 Soldaten stationiert – hauptsächlich aus Großbritannien und Frankreich, dazu Deutsche, Polen, Albaner, Slowenen und Tschechen. Challenger-2-Panzer, Warrior-Schützenpanzer, französische Leclerc-Panzer und dänische Leopard 2A7 bildeten das schwere Gerät. Den Luftraum überwachten belgische F-16 von der Basis Ämari aus. Großbritannien fungiere als Rahmennation, verantwortlich für die Führung.

Ob Putin Estland direkt angreifen werde? Olech differenziert: Eine zweite Front würde die volle NATO-Antwort nach Artikel 5 bedeuten – das wolle Putin vermeiden, solange er in der Ukraine nicht vorankomme. Stattdessen destabilisiere er Estland unterhalb der Kriegsschwelle: hybride Angriffe, Sabotage, Brandstiftungen, Spionage, „grüne Männchen", Wagner-Schiffe. Sollte die Ukraine fallen, stehe Estland als nächstes auf Moskaus Liste.

Das zwölfminütige Eindringen dreier russischer MiG-31-Kampfjets in den estnischen Luftraum habe die Probleme offenbart. Olech habe die Situation live verfolgt – der finnische Generalstabschef, der amerikanische NATO-Kommandeur in Europa und die Esten hätten völlig unterschiedlich reagiert. Für Tallinn sei es unverständlich, dass das Bündnis kein einheitliches Konzept für solche Situationen habe. Man befürchte, bei künftigen Provokationen – auch unter Beteiligung der russischen Minderheit – wehrlos dazustehen und auf Entscheidungen der Verbündeten warten zu müssen. Der Vorsitzende des Außenausschusses, Marko Mihkelson, habe auf X an die Türkei erinnert, die 2015 einen russischen Su-24 nach nur 17 Sekunden Luftraumverletzung abgeschossen habe: „17 Sekunden vs. 12 Minuten. Nächstes Mal machen wir das. Wenn ihr wisst, was ich meine."

Zu Estlands Verteidigungsfähigkeiten: 5.000 bis 7.000 aktive Soldaten, 40.000 Reservisten und die Verteidigungsliga – vergleichbar mit der polnischen Territorialverteidigung. Im Krisenfall könnten etwa 200.000 Menschen mobilisiert werden. Die Ausrüstung werde rasant modernisiert: HIMARS-Systeme, Blue-Spear-Antischiffsraketen, Javelin-Panzerabwehrraketen, französische CAESAR-Artillerie, südkoreanische K9-Panzerhaubitzen. Im kommenden Jahr werde Estland mit 5,4 Prozent des BIP NATO-Spitzenreiter bei den Verteidigungsausgaben. Die größten Rüstungslieferanten seien heute Deutschland (650 Mio. Euro), Frankreich (170 Mio.), Spanien (160 Mio.) und Israel (150 Mio.) – die USA (350 Mio.) seien vom ersten Platz verdrängt worden.
Die estnischen Streitkräfte behaupteten, alle feindlichen Panzer im Westlichen Militärbezirk Russlands zerstören zu können. Im Konfliktfall werde man nicht warten, bis Russland einmarschiere – man habe gesehen, was in Butscha und Cherson geschehen sei. Drohnenkurse für Bürger, Drohnentechnik als Schulfach, ein geplanter Panzergraben von mehreren Dutzend Kilometern an der Südostgrenze als Teil der Baltischen Verteidigungslinie, fast 600 Bunker bis 2027, Schutzräume für ein Zehntel der Bevölkerung – Estland bereite sich umfassend vor.

Wie lange könnte Estland standhalten? In estnischen Analysen spreche man offen von 48 bis 72 Stunden, die man durchhalten müsse, um eine vollständige NATO-Reaktion zu ermöglichen. Dies bedeute nicht, dass das Land nach drei Tagen von der Landkarte verschwinde – in dieser Zeit müssten wichtige Kommandopunkte gehalten und den Verbündeten der Einsatz ermöglicht werden. Die Doktrin ziele darauf ab, Russland in kurzer Zeit maximale Verluste zuzufügen und so die Kosten einer Invasion zu erhöhen. Die Präsenz der britischen, französischen und dänischen Einheiten in Tapa verkürze die NATO-Reaktionszeit von Tagen auf Stunden.

Der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens habe die Lage verändert: Hilfe könne nun auch aus dem Norden kommen, nicht nur aus Deutschland oder Polen. Finnland mit seinen 1.300 Kilometern Grenze zu Russland müsste bei jedem Vorfall in Estland reagieren – es wäre automatisch das nächste Ziel. Die Finnen hätten angeboten, den estnischen Luftraum mit ihren Kampfjets zu schützen. Die Ostsee werde zunehmend als „NATO-Meer" bezeichnet.
Das Problem: Estland verfüge weder über eigene Kampfjets noch über Flugabwehr. Bei einer erneuten russischen Luftraumverletzung sei man auf die Reaktion der stationierten Verbündeten angewiesen. Doch für einen Abschuss müssten mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Das feindliche Flugzeug reagiere nicht auf Signale, seine Flugbahn deute auf eine Bedrohung hin. So entstehe ein NATO-Konsens. Stärkere Verbündete wie Frankreich und Großbritannien bremsten jedoch – sie sähen in einer offenen Konfrontation keinen Sinn und versuchten, Tallinn zu beruhigen.

Olechs Fazit: Estland habe genug davon, passiv zu sein und auf die nächsten russischen Sabotageakte zu warten. Deshalb unterstütze man die Ukraine massiv, dränge auf EU-Sanktionen und die Freigabe eingefrorener russischer Vermögenswerte. „Alles oder nichts" – so laute Estlands Antwort. Möglicherweise werde Tallinn trotz fehlenden NATO-Konsenses im Affekt auf die nächste Bedrohung reagieren. Deshalb sei der ständige Kontakt mit den Verbündeten so wichtig. Ob die Esten für ihr Land kämpfen würden? Sie seien sich der Gefahr bewusst und fühlten Mitverantwortung. Es gebe keine Angst vor Russland – die Bürger vertrauten ihrem Land und glaubten an die NATO, so Dr. Aleksander Olech im Gespräch mit der Gazeta Wyborcza. 

GAZETA WYBORCZA: Musks neue X-Funktion entlarvt Trollfarmen und polnische „Patrioten" 

In einem ironischen Kommentar für die Gazeta Wyborcza beschreibt Bartosz T. Wieliński, wie die neue Standortanzeige-Funktion auf Elon Musks Plattform X für Aufruhr sorgt. Endlich habe Musk etwas Gutes getan, so der Autor.

Die MAGA-Anhänger in den USA, lesen wir, seien tief erschüttert. Es stelle sich heraus, dass große X-Konten, die Präsident Trump, seine Tochter und Söhne oder den ermordeten MAGA-Prediger Charlie Kirk unterstützten, nicht aus den Vereinigten Staaten sendeten, sondern aus Afrika, Asien und dem Balkan. Warum verteidigten Bewohner von Somalia, Mazedonien und Indonesien mit solchem Eifer die MAGA-Ideologie? In diesen Ländern ließen sich leicht und billig Trollfarmen einrichten, aus denen manchmal „Trollriesen" mit millionenfacher Reichweite heranwüchsen.

Auch in Polen gebe die Lokalisierung einiger bekannter X-Nutzer zu denken, schreibt Wieliński. Die Warschauer Abteilung von Grzegorz Brauns antisemitischer Partei Korona sende aus den Niederlanden. Das den ehemaligen Justizminister Zbigniew Ziobro unterstützende Profil „Agencja Bezpieczeństwa Narodowego" (Nationale Sicherheitsagentur), das sich als offizielle Behörde ausgebe, habe X in Belgien lokalisiert. Ob dies mit dem Arbeitsort der Kontenbetreiber zusammenhänge? Die Niederlande seien schließlich ein beliebtes Auswanderungsziel für Polen, und in Belgien arbeiteten viele Polen für EU-Institutionen.




Auf der Liste der Gastgeberländer für die polnische Rechte fehle auch Deutschland nicht. Dort hätten sich wirklich eifrige Anhänger der von Jarosław Kaczyński verbreiteten Theorien niedergelassen, wonach Deutschland Polen seiner Souveränität berauben und in ein von einer „polnischsprachigen Bevölkerung" bewohntes Bundesland verwandeln wolle. Wie hielten sie es nur in diesem Land aus, fragt der Autor ironisch. Es gebe auch polnische Patrioten in Belarus, die sich nun damit rechtfertigten, sie wohnten in Podlachien, wo der polnische Mobilfunkempfang schwach sei und ihre Handys das belarussische Netz aufnähmen.

Die größte Überraschung, so der Autor, hebe er sich für den Schluss auf. Er habe das X-Konto von Jarosław Kaczyński überprüft. Selbstverständlich schreibe der PiS-Vorsitzende aus Polen und von einem polnischen Telefon. Doch X verrate, dass er die Plattform über eine iOS-App nutze – also ein iPhone oder iPad besitze. Wie viel sei über Kaczyński gelacht worden, dass man ihm das Internet ausdrucken müsse, weil er digital völlig ausgeschlossen sei. Elon Musk habe endlich etwas Gutes getan: Er habe geholfen, bösartige Gerüchte zu entlarven. Schämt euch, Linke!, so Bartosz T. Wieliński ironisch in der Gazeta Wyborcza.



Autor: Adam de Nisau


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