Deutsche Redaktion

"Wenn Sabotage eine Strategie ist, muss auch die Antwort strategisch sein"

19.11.2025 12:30
Die Sprengung der Bahnstrecke Warschau-Dęblin dominiert weiterhin die polnischen Schlagzeilen. Wie konnten zwei der Täter in nur 70 Stunden identifiziert werden? Welche Gründe gibt der Westen Russland, seine Sabotage-Kampagne auszuweiten? Und: Wer hat den Informationskrieg über den Vorfall gewonnen? Mehr dazu in der Presseschau.
Śledczy badają sprawę dywersji na torach. Zidentyfikowano telefony sprawców
Śledczy badają sprawę dywersji na torach. Zidentyfikowano telefony sprawców Wojciech Olkusnik/East News

RZECZPOSPOLITA: SIM-Karte und Fingerabdruck führten zu den Tätern

Die konservativ-liberale Rzeczpospolita präsentiert in einer Exklusivrecherche die Details der Ermittlungsarbeit nach dem Sabotageakt auf der Bahnstrecke Warschau-Dęblin. Eine SIM-Karte und ein Fingerabdruck, lesen wir, hätten zur Identifizierung von zwei der Saboteure in nur 70 Stunden geführt. Die Täter hätten ein Telefon am Tatort zurückgelassen, um die „Effekte des Sabotageakts" online zu übertragen.

Die SIM-Karte sei zuvor in mehreren verschiedenen Telefonen verwendet worden. Durch eine „Kreuzanalyse" der Verbindungen hätten die Ermittler den Nutzer identifizieren können. Zusätzlich habe man am Ort der Sprengung Fingerabdrücke gesichert, die zu einem in ukrainischen Kriminaldatenbanken registrierten Mann führten – ein aus Lemberg stammender Ukrainer, der wegen Sabotage vorbestraft sei und über Belarus nach Polen eingereist war. Der zweite Täter stamme aus dem Donbass und sei ebenfalls über Belarus eingereist. Beide seien in der Nacht von Samstag auf Sonntag nach der Tat über den Grenzübergang Terespol nach Belarus geflohen.



Wie das Blatt erinnert, hätten die Saboteure die Sprengladungen im Abstand von etwa einem Meter platziert, an einer Kurve, wo die Gleise auf einem Damm verlaufen. „In einer Kurve sieht der Lokführer einen kürzeren Streckenabschnitt, außerdem wirkt an solchen Stellen die Zentrifugalkraft, sodass im Falle einer Entgleisung der Zug mit umso größerer Wucht abstürzen würde, was die tragischen Folgen potenziert hätte", zitiert das Blatt einen Informanten.

Nur weil die Züge mit über 160 km/h fuhren, seien sie nicht entgleist – ein paradoxer Umstand, der eine Katastrophe verhinderte. Auf der betroffenen Strecke zur ukrainischen Grenze bei Dorohusk verkehrten täglich über hundert Züge, so die Rzeczpospolita.

DZIENNIK/GAZETA PRAWNA: „Es ist bereits eine Kampagne, keine Einzelaktion mehr"

Wir haben es nicht mehr mit Einzelaktionen zu tun, sondern vielmehr mit einer Kampagne, schreibt Mateusz Mielczarek vom King's College London in seiner Analyse für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. Nach dem gescheiterten Blitzkrieg gegen die Ukraine, so der Experte für Kriegswissenschaften, habe Russland seine Taktik geändert: „Da Russland die Ukraine nicht schnell besiegen kann, muss es den Willen des Westens zur Unterstützung Kiews erschöpfen, indem es sein Territorium angreift – aber so, dass die Schwelle zum formellen Krieg nicht überschritten wird", so Mielczarek.

Die Sabotageakte, so der Autor, hätten nach 2022 eine neue Qualität erreicht. „Während russische Sabotageoperationen vor 2022 selten und selektiv waren, haben sie nach Beginn des umfassenden Krieges die Form einer Kampagne angenommen". In den vergangenen Monaten habe es Hunderte von Vorfällen in NATO-Staaten gegeben – von Brandstiftungen über Cyberangriffe bis zu Versuchen, Flugzeuge zum Absturz zu bringen. Dabei nutze Moskau ein neues Modell: die „Gig Economy". Nach der massenhaften Ausweisung russischer Diplomaten 2022 setze der Kreml auf einmalige, über Messenger ferngesteuerte Agenten, die mit Kryptowährungen bezahlt würden. „Russland muss nicht die Freiheit seiner Offiziere riskieren – der Kreml nutzt Menschen, die bereit sind, für einige hundert Euro eine Magazinhalle anzuzünden oder eine anti-ukrainische Parole an die Wand zu schreiben."


Russland versuche dabei gezielt, westliche Bürger und Ukrainer zu rekrutieren. „Das Ziel ist nicht nur materieller Schaden. Es geht darum, Verdacht gegen Flüchtlinge zu säen und die Unterstützung für Kiew zu untergraben." 

Der Experte identifiziert drei rationale Gründe aus Kreml-Sicht für die Eskalation: Erstens erhalte Russland kein Signal, dass es aufhören solle. „Wenn wir über 25 Jahre von Putins Herrschaft zurückblicken, sehen wir, dass die Aktionen des Westens, wenn überhaupt unternommen, reaktiven Charakter hatten – es gab keine effektive Politik zur Abschreckung hybrider Angriffe. Aus Moskaus Perspektive bedeutet das: ‚Man kann weitergehen'." Zweitens solle die Sabotage Panik, Chaos und politische Spaltungen auslösen. „Der Kreml weiß, dass die Destabilisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins effektiver wirkt als eine Panzeroffensive gegen die NATO", schreibt Mielczarek. Drittens sei Sabotage ein Werkzeug zur Erosion der Unterstützung für die Ukraine. „Eine große Zahl spektakulärer Sabotageakte soll die Unterstützung für die Ukraine schwächen, indem sie westlichen Bürgern suggeriert, dass Russland eskalieren wird, solange der Westen seine Unterstützung nicht stoppt."

Die westliche Reaktion bleibe völlig unzureichend, kritisiert der Experte scharf. „Die westliche Antwort beschränkt sich auf Sanktionen, Ermittlungen, diplomatische Noten und Diplomatenausweisungen. Es gibt darin keine Entschlossenheit, die den Kreml abschrecken könnte." Der Westen reagiere zwar immer schneller, aber weiterhin ausschließlich defensiv: verstärkter Schutz der Infrastruktur, Überwachung von Unterseekabeln, neue Vorschriften über „unbewusste Sabotage". „Das ist notwendig, aber nicht ausreichend. Denn wenn Sabotage eine Strategie ist, muss auch die Antwort strategisch sein, nicht administrativ", fordert Mielczarek.

„Russland kalkuliert. Und bisher ist die Rechnung für sie eindeutig: Sabotage lohnt sich. Und wenn sie sich lohnt – gibt es keinen Grund aufzuhören", so Mateusz Mielczarek in Dziennik/Gazeta Prawna.

GAZETA WYBORCZA: „Wir werden Sabotage auf NATO-Territorium nicht tolerieren"

„Man kann keine Sabotageakte auf dem Territorium von NATO und EU akzeptieren", warnt auch die schwedische Außenministerin Maria Malmer Stenergard in einem Interview für die linksliberale Gazeta Wyborcza. Russland, so Stenergard, versuche ständig zu provozieren und teste, wie der Westen reagiere. „Deshalb müssen wir zusammenhalten und sofort reagieren."



Auf die Frage nach angemessenen Reaktionen erklärt die Ministerin: „Bei hybrider Kriegsführung ist es wichtig, dass wir Russland vor strategische Dilemmata stellen, ob es sich tatsächlich lohnt, Bedrohungen zu schaffen. Ich sage nicht, dass man symmetrisch antworten sollte, aber so, dass klar wird, dass wir Sabotageakte auf NATO-Territorium nicht tolerieren werden." Die Ostsee sei nach dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands praktisch zu einem „NATO-See" geworden, dennoch operiere dort weiterhin die russische „Schattenflotte" mit Öltankern unter verschiedenen Flaggen. Diese doppelte Bedrohung – Finanzierung von Putins Kriegsmaschinerie und ökologische Gefahr – müsse dringend angegangen werden.


Stenergard betont die Notwendigkeit schnellen Informationsaustauschs zwischen den Verbündeten: „Sehr wichtig ist der blitzschnelle Austausch von Geheimdienstdaten. Und auch das sofortige Zeigen, dass wir nach dem Prinzip ‚Einer für alle, alle für einen' handeln." Die Ministerin zeigt sich besorgt über die Lage in der Ukraine: „Es frustriert mich sehr, dass nicht alle Länder das tun, was sie tun sollten. Ich sage das offen zu Kollegen und Kolleginnen in Europa und auf der ganzen Welt. Hier geht es um unsere Zukunft", so Maria Malmer Stenergard im Interview mit der Gazeta Wyborcza.

GAZETA WYBORCZA: „Wir verlieren den Informationskrieg"

Polen hat den Informationskrieg nach dem Vorfall verloren, schreibt Bolesław Breczko in seiner Analyse für die Gazeta Wyborcza. Das Analysekollektiv Res Futura habe untersucht, wie die Berichterstattung über die Sprengung die polnische Gesellschaft beeinflusse – mit verheerendem Ergebnis für Regierung, Militär und Dienste.

„Digitalisierungsminister Gawkowski suggerierte eine Provokation oder einen Scherz, Innenminister Kierwiński sprach von einer ‚ernsten Situation', und Premierminister Tusk verwendete den Begriff ‚Sabotageakt'. Die Botschaften waren weder zeitlich noch semantisch synchronisiert", zitiert Breczko aus dem Bericht. Der fehlende einheitliche Kommunikationsstrang habe die Glaubwürdigkeit der Regierung geschwächt und der Opposition ermöglicht, das Informationschaos aufzuzeigen. „Der Empfänger wusste nicht, welche Version gültig ist, was das Vertrauen in staatliche Institutionen senkte."
Die Analyse zeige, dass rund um den Anschlag regierungs- und ukrainefeindliche Meinungen dominierten. Mehr Kommentatoren schrieben den Anschlag Ukrainern zu, die angeblich Polen in den Krieg ziehen wollten, als Russland. Ein erheblicher Teil der Kommentierenden glaube, dass polnische Dienste oder „der Westen" verantwortlich seien.


Michał Fedorowicz von Res Futura warnt vor den Konsequenzen: „Von diesem Chaos profitiert Russland, das seinen Einfluss in Polen nicht mit Panzern aufbaut, sondern durch die Entmutigung der Menschen gegenüber der politischen Klasse und staatlichen Institutionen." Das Ergebnis dieses „Mikroterrors" werde Wahlapathie oder die Stimmabgabe für extreme Gruppierungen und Politiker sein. „So eine gespaltene, misstrauische und demotivierte Gesellschaft wird später extrem anfällig für selbst die kleinste Aktion sein. Russland wird keine Hunderte von Panzern brauchen, denn eine Drohne reicht aus, um Chaos und Panik auszulösen. Und genau darum geht es ihnen."

Polen, so der Experte, brauche eine Strategie der staatlichen Kommunikation, die auf dem Dreieck Politik-Dienste-Medien basieren sollte. „Die politische Seite erfordert die Zusammenarbeit von Regierung, Präsident und Politikern, auch der oppositionellen. Die zweite Seite sind Militär und Sicherheitsdienste. Die dritte sind die Medien, von Telewizja Republika bis zur Gazeta Wyborcza." Fedorowicz fordert konkrete Mindeststandards für die Kommunikation über solche Ereignisse, die parteiübergreifend gelten und auch in Krisenzeiten eingehalten werden. „Wir befinden uns im Informationskrieg, ob es uns gefällt oder nicht. Und momentan verlieren wir ihn", warnt der Bericht von Res Futura.

Autor: Adam de Nisau


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